27.08.2024 Salz & Pfeffer 4/2024

Nur Liebe für die Zwiebel

Text: Hans Georg Hildebrandt – Fotos: Samir Seghrouchni
Die Knolle des weltweit beliebten Liliengewächses ist die Grundlage der meisten Kocherei. Je mehr wir über sie wissen, desto mehr gelingen uns tolle Gerichte.
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«In nassen Jahren sind sie sehr schwierig anzubauen.»

Steile These: In den letzten Jahren hat Youtube mehr für die Zwiebel getan als die meisten Kochbücher und -schulen. Wichtige Bloggerinnen und Blogger im weltweit wichtigsten Online-Medium befassen sich seit Längerem intensiv mit Schneidetechniken, mit Rezepten fürs Einlegen oder Zwiebelsuppe und ganz allgemein mit der Bedeutung der Zwiebel für die Kochkultur. Wer das Suchwort «Onion» oder «Zwiebel» eingibt, wird mit Vorschlägen überschwemmt, und tatsächlich gibt es von vielen der engagierten Köchinnen und Köche auf Youtube etwas zu lernen – auch für Profis. 

Namentlich der unermüdliche Forscher Ethan Chlebowski hat sich im Frühling 2024 mit einem «Deep Dive» zum beliebtesten Liliengewächs der Welt hervorgetan, und man kann diese gründliche Arbeit nur allen ans Herz legen. 48 Minuten dauert die Sendung, in der er sich mit den verschiedenen Farben der Zwiebel befasst und ausführt, ob und wie man zwischen den einzelnen Farben Unterschiede herausschmecken kann. Spoiler: Man kann. Nicht umsonst spielen die diversen Zwiebelfarben in charakteristischen Gerichten weltweit eine entscheidende und äusserst vielfältige Rolle. Chlebowski verweist in seinem Video unter anderem darauf, dass man Unterschiede zwischen Zwiebeln manchmal auch erst im fertigen Gericht herausschmeckt respektive -spürt. 

Die Sorten haben sich voneinander differenziert seit den Zeiten, als die römischen Soldaten – und die Siedler auf deren Spuren – sie immer weiter nördlich in Europa anpflanzten, weshalb es zahlreiche wenig bekannte Sorten gibt, die ausschliesslich in ihren Heimatgefilden zu haben sind. Manche von ihnen schafften dann den Sprung zur überregional begehrten Delikatesse. Zwei davon seien herausgegriffen: die Onion de Roscoff aus der Bretagne und die Cipolla di Tropea aus Kalabrien. Beides sind Sorten, die den gemüsigen Charakter der Zwiebel besonders herausstellen. Will heissen: Sie schmecken roh genauso gut wie gekocht, wobei sie in einem eher groben Viertelringschnitt als Teil von Gemüsegerichten wohl am meisten hermachen; so zumindest die bescheidene Meinung des Berichterstatters. Im Gegensatz zur Verwendung als klein geschnittenes Gewürz erzielt man auf diese Weise eine vielfältigere Textur, sodass das Essen schon vom Mundgefühl her einfach mehr Spass macht. Das Bild auf dem Teller präsentiert sich ebenfalls spannender, weil eben vielfältiger.

Die Vielfalt ist auch für Georg Blunier wichtig, der auf einer herrlich gelegenen Plattform über dem bündnerischen Tal Domleschg seinen Biohof Dusch betreibt. Gemeinsam mit der Zürcher Ladenkette Bachsermärt nahm er sich vor einigen Jahren vor, die Zwiebelvielfalt in der Schweiz zu fördern, und baute eine Reihe von Sorten an, die bei der Organisation für den Schutz seltener Kulturpflanzen Pro Specie Rara gelistet sind. Ein ehrbares Unterfangen – nur stellte sich heraus, dass diese alten Sorten nicht für alle Wetterbedingungen geeignet sind. «In nassen Jahren sind sie sehr schwierig anzubauen», sagt Blunier. «Angesichts des verregneten Sommers 2022 kamen wir auf die Welt, und auch im laufenden Jahr haben wir keine Zwiebeln in den Boden gebracht.» Er habe sich jedoch dazu entschieden, zumindest nächstes Jahr wieder Zwiebeln auszubringen. Und zwar die Sorte Sonka, auch bekannt als ungarische walzenförmige Zwiebel. «Sie sieht aus wie eine grosse Schalotte und hat sich sehr bewährt.» Der Name stammt übrigens daher, dass die Sonka in ihrer Heimatregion Ungarn gerne roh zu Schinken serviert wird.

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Ein richtiges Hochamt der Zwiebel gibt es im spanischen Teilstaat Katalonien, in dem ab Februar die Calçotada gefeiert wird. Calçots sind lang gewachsene Zwiebelschösslinge, die nie dafür angebaut wurden, als Knolle geerntet zu werden. Vielmehr häufelt man die Erde um die Schösslinge auf, wodurch sie in die Länge wachsen, statt Knollen zu bilden. Ab Ende Januar – dem warmen Klima des inländischen Katalonien sei dank – zieht man die lauchartig aussehenden Zwiebeln aus dem Boden und bringt sie in losen Bündeln auf den Markt. Wenn in einem Dorf oder Lokal dann Calçotada angesagt ist, treffen sich die Feierlustigen und verspeisen die auf dem Holzkohlegrill schwarz gerösteten Zwiebelstangen. Man löst von Hand die verkohlten Pflanzenteile ab und geniesst das süsse Innere der Röhrenzwiebel, nachdem man sie in Romesco-Sauce gedippt hat. Dazu gibt es Schweinswürste und regionalen Rotwein aus dem Porrón, dem vom antiken Trinkhorn abgeleiteten Gefäss, mittels dessen man sich berührungslos seinen Wein in den Hals kippen kann. Der Zürcher Gemüse-Guru Tiziano Marinello führt alljährlich im Restaurant Reithalle eine Calçotada durch, und der Brauch hat sich mittlerweile auch bei einzelnen spanisch orientierten Lokalen in der Schweiz etabliert.

Ganz allgemein spielt die Zwiebel in Spanien eine zentrale Rolle. So sagt David Martínez Salvany, seit letztem Jahr Geschäftsführer der Zürcher Bodega Española: «Wir verwenden die Zwiebel genauso gerne in ihrer milden Form roh im Salat, wie wir ihrer schärferen Version in unseren Schmorgerichten einen sehr hohen Stellenwert einräumen.» In der Bodega-Küche kommen entsprechend viele verschiedene Zwiebelsorten zum Einsatz, wobei Martínez einräumt, dass er am liebsten «ausschliesslich die Zwiebeln aus der katalanischen Bezirksstadt Figueres verwenden würde». Calçots wird es in der Bodega übrigens ebenfalls geben – zwar nicht im Rahmen eines ausgelassenen Festes («Schwierig in der engen Altstadt!»), aber zumindest als klassisches Gericht auf dem Teller.

In den Gourmetküchen der Schweiz wird die Zwiebel heute nicht mehr selbstverständlich als Würze zu jedem Gemüse serviert. Sagt zum Beispiel Küchenchef Kevin Wüthrich vom Thuner Dampfschiff: «In meiner Lehre kochten wir fast jedes Gemüsegericht mit Zwiebeln, heute ist das anders.» Man will nämlich das Gemüse am liebsten in seiner unverfälschten Geschmacksexpression geniessen. Im Gegenzug wird die Zwiebel als selbstständige Protagonistin in Szene gesetzt. «Am besten grilliert man sie in der Schale auf dem Grill, so verleiht man ihr eine angenehme Süsse.» Die Calçotada lässt grüssen! 

Kehren wir zu Youtube zurück: Besonders zahlreich sind dort die Rezepte für gepickelte Zwiebeln, die in den Videos bevorzugt als Teil von ausufernd belegten Sandwiches gereicht werden. Die gepickelte Zwiebel bringt gleichermassen Säure, Süsse und Schärfe ins Spiel, während sie beim Beissen für gewagten Crunch sorgt. Das ist der Effekt, den alle Köche und Köchinnen lieben, und ihre Gäste ebenfalls. Die Pickles eignen sich als Beilage zu fast jedem salzigen Gericht und bereichern es um Dimensionen. Darum sei abschliessend verraten, wie Küchenchef Wüthrich seine gepickelten Zwiebeln zubereitet: «250 Gramm vom Lieblingsessig aufkochen, 250 Gramm Honig dazugeben und auflösen. Salz dazugeben – 0,3 Prozent vom Gewicht des Gemüses. Dann 500 Gramm grob gehobelte Zwiebeln in ein Glas geben, mit der Lake übergiessen und während drei Tagen ziehen lassen. Im Anschluss hat man die besten Pickles ever!» Na, da bekommt man doch gleich Lust, sich in Schale zu werfen und ein paar Kisten Zwiebeln zu bestellen. 

Wir danken der Marinello + Co AG für die illustre Auswahl an Zwiebelsorten fürs Fotoshooting.