«Was für viele noch uneingeschränkter Genuss ist, löst bei anderen Brechreiz aus. Im Falle von Fehlerdiskussionen sollte also stets gelten: Ruhe bewahren.»
Vor einiger Zeit probierten die Verantwortlichen eines coolen Zürcher Restaurants die Weine eines ihnen bekannten Winzers. Bei einem soll der Winemaker – glaubt man den Erzählungen von Insidern – die Augenbrauen hochgezogen haben. Dieser sei misslungen, teilte er der Kundschaft mit, und er wolle ihn wegschütten. Der Wein habe nämlich einen Fehlton entwickelt, der unter Kennern als Mäuseln beschrieben wird und an die Ausscheidungen kleiner Nager erinnert. Die Gastronomen widersprachen. Mäuseln hin, Mäuseln her, der Wein schmecke ihnen. Sie baten um Abfüllung. Wenig später stand die fehlerhafte Kreation für knapp 70 Franken pro Flasche im Regal. Sie soll bei den Kunden gut angekommen sein.
Angesichts dieser Episode über die Liebhaber der trüben, oft eigenwillig duftenden und schmeckenden Natural Wines zu spotten, wäre allerdings falsch. Sie zeigt vielmehr, dass Fehltöne im Wein sehr unterschiedlich wahrgenommen werden und sich kaum je eindeutig einordnen lassen. Was der eine schon in kleinsten Dosen als unangenehm empfindet, ist für den anderen ein lässlicher Makel. Mehr noch: So mancher Weintrinker liebt sogar Fehltöne, ohne sich dessen bewusst zu sein. Man denke nur an die entsetzlichen pflanzlich-grünen Noten, die früher so manchem Bordeaux anzuriechen waren und die auf unausgereifte Trauben hindeuten. Für heutige Weintrinker sind sie ein klares Ausschlusskriterium, für viele Geniesser der ganz alten Schule hingegen ein Grund zur Freude. Auch bei jenen aggressiven Holz- und Röstnoten, die noch vor ein paar Jahren so manchen Schweizer Rotwein prägten, handelt es sich de facto um Vinifikationsfehler. Was einem die Winzer natürlich nicht sagen, sondern stattdessen von feinster Würze schwafeln. Auch beim Petrol gibt es unterschiedlichste Wahrnehmungen: Für einen Weissweintrinker, der vor 30 Jahren sozialisiert wurde, kündigt der Duft nach Flugzeugbenzin edlen Riesling aus dem Elsass an. Und der «Brett»-Ton? Viel Pferdestall im Wein? Geht gar nicht, finden viele Weintrinker. Muss sein, rufen die Fans traditioneller belgischer Biere. Die Wahrheit liegt anders als im Sprichwort nicht im Wein oder in der Mitte, sondern in der individuellen Prägung.
Ob der Sommelier in einem Sterne-Restaurant nahe dem Bodensee wirklich frech war, ist aus diesem Grund unklar. Er beharrte darauf, dass der müffelnde Wein keinen Korkfehler habe, und er blieb auch dabei, als es aus der zweiten geöffneten Flasche deutlich feiner, klarer, fruchtiger duftete. Gut möglich, dass der Sommelier ein arroganter Depp war. Wahrscheinlicher ist, dass er den verdorbenen Zapfen einfach nicht riechen konnte. Ein beachtlicher Teil der Bevölkerung erkennt den Stoff TCA, der für den einschlägigen Geschmack verantwortlich ist, nämlich nur in sehr hohen Konzentrationen: Was für viele noch uneingeschränkter Genuss ist, löst bei anderen Brechreiz aus. Im Falle von Fehlerdiskussionen sollte also stets gelten: Ruhe bewahren.