Mazzia bewältigt den Drahtseilakt bravourös.
Ausreizen, was man ausreizen kann. Soll man das als Fehler bezeichnen und kritisieren? Oder als cleveres Geschäftsmodell loben? Die Preise jedenfalls, die in diesem eigentlich mickrigen Bistro in Marseille aufgerufen werden, sind nach der Verleihung des dritten Sterns geklettert. So sehr, dass auch der Guide Michelin nicht mehr hinterherkommt. 265 Euro soll das allerteuerste Menü kosten, steht auf dessen Website im Moment unseres Besuchs, doch in Wirklichkeit muss, wer abends einkehrt im AM par Alexandre Mazzia und die ausführlichste aller angebotenen Speisenfolgen bestellt, 385 Euro berappen. Mittags kostet das grosse Menü immer noch 285. Pro Person und ohne einen Tropfen Wein. Damit schlägt der neue Drei-Sterne-Koch Frankreichs zumindest beim Preis so manches etablierte Pariser Toplokal.
Abschrecken tut das verlangte Geld indes nicht. Reservierungen waren Ende Juli erst wieder für Mitte September zu bekommen, und auch danach dürfte zusätzlich zu eingeplanten Gästen, Köchen und Kellnern keine Maus mehr ins Restaurant passen. Was durchaus wörtlich gemeint ist, denn das in einer ruhigen Strasse von Marseille gelegene neue Juwel der südfranzösischen Gastronomie verstört mit seinen Platzverhältnissen all jene, die an Klaustrophobie leiden. Einmal da, sollten sich Reisende nach dem Hinsetzen besser nicht mehr gross bewegen. Man sitzt eng, dank Glasscheiben freilich coronakonform, und fragt sich, wie die Mitarbeiter es hinbekommen, nicht ständig ineinander zu laufen. Da wurde sicher jahrelang geübt.
Bei einem Besuch der Toiletten im Untergeschoss muss man indes aufpassen. Nimmt der Sommelier gerade Nachschub aus dem Klimaschrank, ist der Ausgang versperrt. Und weiss der Himmel, wo man jene Zigarren rauchen soll, die in dem kleinen Humidor daneben lagern: vielleicht auf der Strasse. Kein Zweifel: Unter den Drei-Sterne-Restaurants Frankreichs ragt das AM schon optisch heraus.
Für Alexandre Mazzia gilt das im wahrsten Sinne. Der Mann ist ein Riese, spielte lang erfolgreich Basketball und beherrscht schon optisch das Geschehen in der verblüffend kleinen offenen Küche. Hier ein Lammkarree zu grillieren oder eine Dorade aus der Salzkruste zu holen, dürfte kaum möglich sein. Aber es gibt eh keine grossen Fische an diesem Mittag. Auch weder Geflügel noch anderes Fleisch – sofern man die durchaus vorhandenen Jus, Fonds, Aromatisierungshäppchen nicht als solche definiert. Schnell macht der Service klar, dass ein einziges Menü in variierender Länge zur Verfügung stehe und viel Pflanzliches und Fisch enthalten sei.
Ein bisschen von Letzterem kommt gleich zu Beginn. Zwei hauchdünne Scheiben von der Zahnbrasse als Teil des Amuse-Bouche oder des ersten Gangs – so genau lässt sich das nicht auseinanderhalten. Dazu kristallisierter Kohl mit Safran, süss-saure Zucchini, Rotbarbe mit einer Vinaigrette, die aus den Köpfen von Fischen hergestellt wurde. Weil der Jahrgangspastis – wir nehmen den ältesten, einen 2017er – eher ein Erlebnis für sich ist, als dass er wirklich zum Essen passt, schwenken wir auf Champagner um. Der dürfte nicht zufällig die Weinkarte dominieren, harmoniert er doch am besten mit den intensiven, zwischen asiatischen Aromen, mediterranen Zutaten und Verrücktheiten pendelnden Speisen. Algen, Süsskartoffel und Lakritz: verblüffend komplex. Wildlachs mit Sake: wunderbar abgestimmt. Räucheraal mit Schokolade in Form kleiner, nach Patisserie aussehender Happen: ein Wagnis der höchsten Kategorie, in diesem Fall aber gelungen. Mazzia bewältigt den Drahtseilakt bravourös.
Merkt man im Essen jene Kindheit, die Mazzia im Kongo verbrachte, fragen die Journalisten an dieser Stelle gern. Als Sohn eines Holzhändlers kam der Chef in Pointe-Noire zur Welt. Ihn selbst zu fragen, ist schwierig, denn er hat alle Hände voll zu tun. Bedingt, wäre deshalb unsere Antwort. Die Kaffirlimette, welche die Butter zum erst jetzt servierten luftigen Brot aromatisiert, ist kaum als unverwechselbar afrikanisch einzuordnen, das Maniokgelee zu einem Gericht mit Kaisergranat schon. Deutlicher scheint jene Zeit durchzuschimmern, die Mazzia bei Martín Berasategui in Spanien verbrachte. Und denkt man bei seiner gekonnten Verarbeitung von Gemüse nicht unwillkürlich an den Pariser Alain Passard, bei dem er ebenfalls eine Weile studierte?