Monsieur Haeberlin bittet zum Gespräch. Ausnahmsweise nicht nach draussen, in den herrlichen, weltberühmten Garten am Ufer des Flusses. Es ist heiss, knapp 40 Grad: Rekordhitzewelle über Mitteleuropa. Am Dorfeingang von Illhaeusern warnt ein Hinweis vor der Canicule, wie die Franzosen die brütende Hitze nennen. Also lieber drinnen bleiben, in der kleinen Sitzecke links neben dem Eingang. Ob die Störche, die dem Haus und dem Garten verbundenen Vögel, noch kämen? Bei dem Wetter? Ja, bestätigt der Chef der Auberge de l’Ill. «Aber nicht mehr so oft, seit meine Mutter verstorben ist.»
In diesem Moment kriecht er hervor, der Schatten, jener Anflug von Melancholie, der über der Auberge de l’Ill zu liegen scheint. Monsieur Haeberlin war ja immer schon ein eher zurückhaltender, bedächtiger Typ, aber diese Eigenschaften scheinen sich noch verstärkt zu haben. Vielleicht sind tatsächlich alle noch ein bisschen geschockt von der Entscheidung des Guide Michelin, dem ehrwürdigen Elsässer Restaurant einen Stern abzuknöpfen.
Zumal das Ganze ja unerwartet gekommen ist. Die Feierlichkeiten zum 50-Jahr-Jubiläum der Elsässer Legende wurden gerade erst abgeschlossen. 1967 war dem Haus erstmals die Höchstauszeichnung verliehen worden, seitdem erfolgte die Bestätigung im Rhythmus eines langsam, aber konstant schlagenden Uhrwerks. Was sollte schon schiefgehen? Doch dann ging es schief, und als Marc Haeberlin nach der Veranstaltung, an der Auf-und Absteiger genannt wurden, einem Fernsehjournalisten ein Interview gab, schien er den Tränen nahe.
Die Auberge de l’Ill ist nicht irgendein Restaurant, sie ist ein Gesamtkunstwerk, von dessen Bedeutung man sich nur eine ungefähre Vorstellung macht in der Schweiz oder in Deutschland. Eine Art Rütliwiese mit Verpflegungsmöglichkeit, ein Nationalheiligtum, dessen Bedeutung übers Elsass hinausreicht. Ende des 19. Jahrhunderts legte Marcs Urgrossvater Frédéric den Grundstein, auf den diverse Haeberlin-Frauen aufbauten: Frédérique, Henriette und Marthe sorgten für Konstanz. Frittierte Fische gab es damals im L’Arbre Vert, bodenständige Kost.
Als sich die Brüder Paul und Jean-Pierre Haeberlin nach dem Zweiten Weltkrieg entschieden, die zerstörte Auberge neu aufzubauen, lockten sie nicht nur die Dorfbewohner, sondern auch die Touristen. Paul hatte beim berühmten Hôtel de la Pépinière in Ribeauvillé gelernt, sich in Paris fortgebildet, machte sich bald daran, die heimische Küche schrittweise zu verfeinern. Gänseleberterrine, Lachssoufflé und Froschschenkel-Mousseline kamen auf die Karte, für die damalige Zeit leichte, feine, elegante Speisen. Ab 1952 leuchtete der erste Stern, fünf Jahre später kam der zweite. Weil die Auberge so nah zum Kaiserstuhl liegt und auch Basel nicht weit ist, beeinflussten die Haeberlins eine ganze Generation von deutschen und Schweizer Köchen.
Ob der Erfolg dazu geführt hat, dass alle ein bisschen nachlässig wurden? Die Meinungen gehen auseinander, womöglich hat es auch schwächere Epochen gegeben. Aber hätte man denn alles über den Haufen werfen sollen? Marc Haeberlin pflegt die Geschichte. Auf der Speisekarte, die bei schönem Wetter bereits draussen zum Apéro gereicht wird, stehen sie immer noch, die Klassiker des Hauses, durch ein Symbol markiert. Wie sollte man hier einkehren und nicht die legendäre Foie gras bestellen? Serviert wird sie drinnen, in einem der eleganten, zeitlos anmutenden Gasträume. Eine herzliche Tischkellnerin bringt die grosse Schüssel, sticht Tranchen ab, drapiert Geleewürfel, trägt den Teller wieder fort. Der Wein ist noch nicht da.
Serge Dubs, der berühmte Sommelier, ist heute nur als Gast vor Ort; er tritt kürzer, versieht nicht mehr an jedem Tag der Woche den Dienst. Der Pinot gris von Trimbach ist, als er kommt, nur zart süss, unterstützt die Vorspeise. Der Versuchung, Gast und Leber mit einer zuckrigen Auslese zu erschlagen, entgeht man hier. Handwerklich ist die Leberterrine perfekt, leicht rosa in der Mitte, schmelzend, zart und präzise gewürzt. Gelee, in kleinste Würfel gehackt, auf feinere Art zu servieren, ist undenkbar.