10.09.2019 Salz & Pfeffer 6/2019

Rütliwiese mit Speisekarte

Text: Wolfgang Fassbender – Fotos: Gianni Villa, Lukam und z.V.g.
Haeberlins Auberge de l’Ill ist eine Legende. Doch weder Renommee noch Tradition konnten das Restaurant am Ufer der Ill davor bewahren, den dritten Stern zu verlieren. Vom Schock hat man sich im für Leberterrine und Lachssoufflé bekannten Lokal noch nicht erholt.
Keine Frage, der weltberühmte Garten der Auberge de l'Ill verdient drei Sterne.
auslandja-ger3.jpg

Monsieur Haeberlin bittet zum Gespräch. Ausnahmsweise nicht nach draussen, in den herrlichen, weltberühmten Garten am Ufer des Flusses. Es ist heiss, knapp 40 Grad: Rekordhitzewelle über Mitteleuropa. Am Dorfeingang von Illhaeusern warnt ein Hinweis vor der Canicule, wie die Franzosen die brütende Hitze nennen. Also lieber drinnen bleiben, in der kleinen Sitzecke links neben dem Eingang. Ob die Störche, die dem Haus und dem Garten verbundenen Vögel, noch kämen? Bei dem Wetter? Ja, bestätigt der Chef der Auberge de l’Ill. «Aber nicht mehr so oft, seit meine Mutter verstorben ist.»

In diesem Moment kriecht er hervor, der Schatten, jener Anflug von Melancholie, der über der Auberge de l’Ill zu liegen scheint. Monsieur Haeberlin war ja immer schon ein eher zurückhaltender, bedächtiger Typ, aber diese Eigenschaften scheinen sich noch verstärkt zu haben. Vielleicht sind tatsächlich alle noch ein bisschen geschockt von der Entscheidung des Guide Michelin, dem ehrwürdigen Elsässer Restaurant einen Stern abzuknöpfen.

Zumal das Ganze ja unerwartet gekommen ist. Die Feierlichkeiten zum 50-Jahr-Jubiläum der Elsässer Legende wurden gerade erst abgeschlossen. 1967 war dem Haus erstmals die Höchstauszeichnung verliehen worden, seitdem erfolgte die Bestätigung im Rhythmus eines langsam, aber konstant schlagenden Uhrwerks. Was sollte schon schiefgehen? Doch dann ging es schief, und als Marc Haeberlin nach der Veranstaltung, an der Auf-und Absteiger genannt wurden, einem Fernsehjournalisten ein Interview gab, schien er den Tränen nahe.

Die Auberge de l’Ill ist nicht irgendein Restaurant, sie ist ein Gesamtkunstwerk, von dessen Bedeutung man sich nur eine ungefähre Vorstellung macht in der Schweiz oder in Deutschland. Eine Art Rütliwiese mit Verpflegungsmöglichkeit, ein Nationalheiligtum, dessen Bedeutung übers Elsass hinausreicht. Ende des 19. Jahrhunderts legte Marcs Urgrossvater Frédéric den Grundstein, auf den diverse Haeberlin-Frauen aufbauten: Frédérique, Henriette und Marthe sorgten für Konstanz. Frittierte Fische gab es damals im L’Arbre Vert, bodenständige Kost.

Als sich die Brüder Paul und Jean-Pierre Haeberlin nach dem Zweiten Weltkrieg entschieden, die zerstörte Auberge neu aufzubauen, lockten sie nicht nur die Dorfbewohner, sondern auch die Touristen. Paul hatte beim berühmten Hôtel de la Pépinière in Ribeauvillé gelernt, sich in Paris fortgebildet, machte sich bald daran, die heimische Küche schrittweise zu verfeinern. Gänseleberterrine, Lachssoufflé und Froschschenkel-Mousseline kamen auf die Karte, für die damalige Zeit leichte, feine, elegante Speisen. Ab 1952 leuchtete der erste Stern, fünf Jahre später kam der zweite. Weil die Auberge so nah zum Kaiserstuhl liegt und auch Basel nicht weit ist, beeinflussten die Haeberlins eine ganze Generation von deutschen und Schweizer Köchen.

Ob der Erfolg dazu geführt hat, dass alle ein bisschen nachlässig wurden? Die Meinungen gehen auseinander, womöglich hat es auch schwächere Epochen gegeben. Aber hätte man denn alles über den Haufen werfen sollen? Marc Haeberlin pflegt die Geschichte. Auf der Speisekarte, die bei schönem Wetter bereits draussen zum Apéro gereicht wird, stehen sie immer noch, die Klassiker des Hauses, durch ein Symbol markiert. Wie sollte man hier einkehren und nicht die legendäre Foie gras bestellen? Serviert wird sie drinnen, in einem der eleganten, zeitlos anmutenden Gasträume. Eine herzliche Tischkellnerin bringt die grosse Schüssel, sticht Tranchen ab, drapiert Geleewürfel, trägt den Teller wieder fort. Der Wein ist noch nicht da.

Serge Dubs, der berühmte Sommelier, ist heute nur als Gast vor Ort; er tritt kürzer, versieht nicht mehr an jedem Tag der Woche den Dienst. Der Pinot gris von Trimbach ist, als er kommt, nur zart süss, unterstützt die Vorspeise. Der Versuchung, Gast und Leber mit einer zuckrigen Auslese zu erschlagen, entgeht man hier. Handwerklich ist die Leberterrine perfekt, leicht rosa in der Mitte, schmelzend, zart und präzise gewürzt. Gelee, in kleinste Würfel gehackt, auf feinere Art zu servieren, ist undenkbar.

Knuspriger Aal
Knuspriger Aal
auslandja-ger5.jpg
auslandja-ger4.jpg
Marc Haeberlins Gemüseteller
Marc Haeberlins Gemüseteller

Also drei Sterne. Oder doch nicht? Schon beim ersten Gang wird deutlich, dass es eine unanfechtbare Definition nicht gibt. Die Grenze zwischen genialem Purismus und routinierter Belanglosigkeit ist schmal. Wer der Haeberlin’schen Leber nicht wohlgesonnen wäre, könnte von Langeweile reden, die Zeichen der Zeit vermissen oder bemängeln, dass das Restaurant den Anschluss an die internationale Kochszene verpasst habe. Doch ob der Michelin wohlgesonnen ist, das weiss keiner, auch Marc Haeberlin ist ratlos. Neulich erst sei der neue Guide-Chef zum Essen da gewesen, habe sich zufrieden gezeigt, nett. Er solle so weitermachen, habe der Mann gesagt, ihn später noch angerufen. Also sind trotzdem keine Änderungen gewünscht. Oder sollten die Haeberlins im Gegenteil wieder zurück zu den Ursprüngen finden, alles Moderne canceln?

Im Verlauf der letzten Jahrzehnte kamen ja immer wieder neue Kreationen auf die Karte. Marc Haeberlin war neugierig, setzte sich mit asiatischen Zutaten auseinander. Gebratenes Seebarschfilet mit Dashi-Emulsion ist so ein Beispiel. Knusprige Haut, taufrischer Fisch, eine schaumige, tiefgründige Sauce (jede Menge davon!). Macht Spass. Das Lammkarree ist danach so gut gebraten, die tomatige Beilage so frisch und ausgewogen, dass man auf der Stelle an die Spitzennote denkt. Beim Käsewagen erst recht. Genial ist auch die Weinkarte, die ja nicht nur viel reife Flaschen führt, sondern auch ein Offenweinangebot, das sprachlos macht. Schon für weniger als 40 Euro öffnen einem Serge Dubs’ Kollegen einen schönen Roten. Aber ob der Guide Michelin überhaupt das Drumherum berücksichtigt hat, als er den dritten Stern einkassierte?

Nicht dass Marc Haeberlin nicht nachgefragt hätte, aber so richtig klug ist er aus den Auskünften nicht geworden, zumal es ja in jedem Restaurant der Welt Höhen und Schwächen gibt, zumal Perfektion über alle Gänge und Gäste hinweg unmöglich ist. Die Kunden jedenfalls hat die Nachricht von der Abstufung nicht beeinflusst. «Das Geschäft ist gleich gut wie im letzten Jahr», sagt Marc Haeberlin. Ein volles Lokal an einem Mittag unter der Woche, an einem der heissesten Tage des Jahres, muss man erst mal hinbekommen. Kritiker munkeln dagegen, dass der Michelin vielleicht genervt gewesen sei, von Haeberlins Zusatzaktivitäten. Tatsächlich ist der Koch auch in Japan aktiv, betreut eine Brasserie in Strasbourg, kümmert sich um das Fine Dining des Bürgenstock-Hotels und das Restaurant im Royal Savoy in Lausanne. Hin und wieder ist er weg von Illhaeusern, aber ganz oft auch da. Und halten es nicht viele seiner Kollegen ähnlich? Eine Krux mit den Ansprüchen der Tester!

Drei Sterne wert ist ganz gewiss das gewaltige Angebot der Desserts. Chefpatissier Christophe Fischer hat ein ganzes Bündel von Süssspeisen im Köcher, von der Pêche Haeberlin, dem famosen pochierten Pfirsich von ganz früher, bis zu Sorbets, nach Bento-Art serviert. Doch auch die neuesten Kreationen verleugnen nicht den Charakter des Hauses. Kraftvoll geht es zu, nie federleicht. Auch der Clafoutis à l’ancienne ist ein Sattmacher. Rührteig, in Muscat eingelegte Kirschen, Verveine-Glace und Mandeln. Das hat Kalorien bis zum Abwinken, aber es ist sehr gut, komplex, dicht und ungeheuer befriedigend. Drei Sterne? Ja, verdammt noch mal!

Die Schwester des Chefs, Danielle Baumann-Haeberlin, erkundigt sich, ob alles gut war, und sieht nur zufriedene Gesichter. Es geht alles seinen Gang, und dass der dritte Stern wiederkommt, bezweifelt keiner. Noch nicht im nächsten Jahr, vermutet Haeberlin. Er hat sich arrangiert mit der Situation, reagiert anders als sein Kollege Marc Veyrat, der die Sterne grade erst zum Teufel wünschte. Leicht fällt dem Elsässer die neue Situation aber noch immer nicht. «Man merkt, dass man nicht mehr in der Champions League spielt», resümiert Marc Haeberlin.

L’Auberge de l’Ill
2, rue de Collonges au Mont d’Or
68970 Illhaeusern, Frankreich+33 389 718 900
www.auberge-de-l-ill.com

Michelin im Krawallmodus
Marc Haeberlin ist nicht der Einzige, den der französische Guide Michelin in seiner aktuellen Ausgabe zünftig vor den Kopf gestossen hat. Keinen Koch dürfte die Entscheidung zur Abstufung von drei auf zwei Sterne je härter getroffen haben als Marc Veyrat, den aus Annecy stammenden Koch mit dem Schlapphut. Ein paar Monate nach dem Verlust machte der lange von Michelin und Gault & Millau als Genie gefeierte Chef des Restaurants La Maison des Bois deutlich, dass er fortan keinen Wert mehr lege auf die rote Bibel und seine Sterne zurückgebe.

Tatsächlich scheut der Bretone Gwendal Poullennec, der neue internationale Direktor des Michelin, keinen Streit. Nachdem sein Vorgänger dem Restaurant von Sébastien Bras 2018 in Laguiole einen Austritt aus dem Guide gestattet hatte, nahm er es in der aktuellen Ausgabe wieder auf – nun lediglich mit zwei statt drei Sternen. Es spricht viel dafür, dass der Krawallmodus anhält und auch Veyrats Wille missachtet werden könnte.