«Das Terroir ist für ein Bier unverwechselbar.»
Früher schmeckte jedes Bier sauer. Nicht etwa, weil das beliebt war. Es gab schlicht keine Möglichkeit zum Kühlen, und die Pasteurisierung war noch nicht erfunden. Dies führte dazu, dass wilde Hefen und Bakterien ungehindert ins Bier gelangen und es sich dort bequem machen konnten. Daraus resultierte ein säuerlicher Geschmack, weshalb man nicht gern während warmer Monate braute. Übermässig saures Bier galt als minderwertig und war nicht begehrt.
Aus Alt mach Neu
Heute fungiert Sauerbier als Oberbegriff für viele verschiedene Bierarten, die derzeit eine Renaissance erleben. Das ist zum Teil findigen Brauern zu verdanken, die alte Bierstile hervorholen und mit ihrem mit viel Leidenschaft gefertigten Craft-Bier die Angebotspalette bereichern. Ausserdem wandeln auch Konsumentinnen und Konsumenten dank Kombucha, Kimchi und Kefir gern vermehrt auf der sauren Seite des Genusses. Nicht absichtlich nach einem sauren Bier gegriffen hat Tobias Aeschlimann bei seinem ersten Erlebnis damit. Er ist Brauer bei der Brauerei Blackwell im bernischen Burgdorf, die sich vor allem durch ihre mit wilder Hefe vergorenen Biere auszeichnet. Damals trank er gern belgische Biere und orientierte sich an der Herkunft des Gebräus. Die saure Überraschung kam am Tisch: «Ich war sehr irritiert», erinnert sich Aeschlimann. Je mehr er jedoch von dem Bier trank, desto interessierter wurde er. «Für meine Geschmacksknospen war das ein sehr einprägsamer Moment.»
In Belgien hat saures Bier eine lange Tradition – vor allem als flämisches rotes und braunes Ale, als spontan vergorenes Weizenbier namens Lambic oder aber als Gueuze, eine Mischung aus unterschiedlich altem Lambic. Durch die mehrjährige Flaschengärung entsteht prickelnde Kohlensäure. Ausserdem mögen die Belgier Frucht-Lambic etwa mit Kirschen (Kriek). Auch unsere nördlichen Nachbarn kennen zwei saure Bierstile: Das Gose ist ein erfrischendes und leichtes Bier, das mit Milchsäurebakterien sowie Salz und Koriander gebraut wird, und auch ins Berliner Weisse gelangt die angenehm frische Säure mittels Milchsäurebakterien.
Auf Hefejagd im Emmental
Als Aeschlimann und sein Bruder im Jahr 2006 mit dem Bierbrauen begannen, taten sie das mit der Mission, ihrem Bier möglichst viel Regionalität mitzugeben: «Das Terroir ist für ein Bier unverwechselbar», erklärt Aeschlimann. Denn warum solle nur bei Wein zu schmecken sein, woher dieser komme? Um regelmässig aus Emmentaler Hefe spontan vergorene Biere herstellen zu können, orientierten sich die Brüder an alten Herstellungsmethoden: In einer Edelstahlwanne lassen sie gekochte Bierwürze über Nacht in der Nähe des Waldes abkühlen. So können sich Hefesporen festsetzen, die anschliessend indoor für die Gärung sorgen. Dabei sinkt der pH-Wert, und das Geschmacksprofil des Sauerbiers beginnt demjenigen eines trockenen Weins zu gleichen. «Liebhaber von Naturwein zählen zu unseren Fans», sagt Aeschlimann. Vom Braubeginn ihrer spontan vergärten Biere bis zum Verkauf vergehen zwei bis drei Jahre.
Volle Aufmerksamkeit
Die Biere von Blackwell haben einen eigenen Stil: Native Wild Ale. «Wir experimentieren mit unterschiedlichen Hefesträngen und Bierstilen, sodass dieser Name unser Handwerk am besten zusammenfasst.» Dass die Burgdorfer Biere anecken und das Feedback «durchzogen» ist, freut Aeschlimann geradezu: «Wir wollen die Menschen dazu einladen, das Bier aufmerksam und in Ruhe zu trinken, statt es auf der Zugfahrt von Bern nach Burgdorf in unter 15 Minuten hinunterzustürzen.» Aeschlimanns Apollo Wild IPA etwa gibt immer wieder zu reden. «Der Hopfen dominiert nicht wie erwartet. Es ist dafür angenehm sauer.» Zu schätzen wissen das nicht alle.
Sehr wohl geschätzt für ihre angenehme bis intensive Säure werden die Biere der jurassischen Brasserie des Franches-Montagnes BFM. Seit 2004 füllt Jérôme Rebetez seine Biere in Eichenfässer ab und lagert diese. Seine auf diese Weise sauer werdenden Biere machten ihn und seine Brauerei berühmt. «Diese Art von Bier ist ein Bindeglied zum Wein, mit Noten und Methoden, die beiden Getränken entlehnt sind», sagt der Önologe.
Die BFM-Biere sind weit über die Landesgrenze hinaus beliebt: «Letztes Jahr besuchten uns vier Belgier, die mit dem Velo angereist waren, um unsere Biere zu probieren, und am nächsten Tag weiterfuhren», erzählt Rebetez stolz. Ein Grossteil der Deutschschweizer jedoch hat den richtigen Zugang zum Sauerbier-Genuss noch nicht gefunden: «Ein gutes Bier bedeutet in der deutschsprachigen Schweiz ein frisches Bier», so der Brauer. «Unseres ist zwei Jahre alt, wenn wir es verkaufen.» Oft gebe es Reklamationen: Da sei kaum Schaum, das Bier schmecke komisch – man habe es in den Abfluss gekippt.
Ruhe und Übung gefragt
Wer sich über die sauren Biere «made in Switzerland» freut, sind die Bierbars. «Sie sind stolz, nicht nur saure Biere aus dem Ausland anzubieten», weiss Aeschlimann. Auch Gastronomen kommen auf den Geschmack: Mit diversen Restaurants entwickelt die Brauerei Blackwell auf Anfrage gleich ganze Food-Pairings. Für den individuellen Versuch rät der Burgdorfer Brauer zu Käse: Raclette, Fondue oder eine Käseplatte passten wunderbar. Und ein fruchtiges Sauerbier harmoniere mit dem Dessert. Ein spezielles Gefäss braucht es fürs Sauerbier indes nicht: «Im Weinglas kommt es perfekt zur Geltung.» Wichtig allerdings sei, sich Zeit zu nehmen. Denn die komplexen Geschmäcker fordern die volle Aufmerksamkeit beim Genuss. Dem pflichtet der welsche Kollege Rebetez bei: «Um ein neues Getränk schätzen zu lernen, braucht es Ruhe und Übung.»