«No Barrique, no Berlusconi.»
Auf dem Dorfplatz werfen die Strassenlaternen ihr schwaches Licht in die Gassen, am dunklen Firmament verabschieden sich die Savoyer Alpen, und in der Osteria am Dorfplatz treffen sich die Eingeborenen auf ein Glas Barolo Chinato zum vorabendlichen Schwatz. Unspektakulärer Alltag im Piemont. Auch im hektischen 21. Jahrhundert. Noch in den Achtzigern war die Langhe verschlafen und verschont von der Trüffelmanie neureicher Prasser. Der Dolcetto schäumte violett, und an junges Holz verschwendeten die Winzer keine Gedanken. In den familiär geführten Beizen kam der Trüffel zum Freundschaftspreis auf den Tisch, und die Antipasti wurden nie unter acht Gängen aufgetischt. Manchmal kamen noch einige dazu. «No, grazie» zu sagen, war nicht möglich.
«Mangia, mangia bene», sagte die lächelnde Nonna, was einem Befehl gleichkam. Die Primi wurden auf Platten serviert, bei denen die hauchdünnen Tajarin und die in Butter und Salbei geschwenkten Agnolotti im Vordergrund standen. Den Hauptspeisen blieb nur die Nebenrolle. Kaninchen in Arneis, Brasato al Barolo und Anatra, begleitet von leicht angebratenen Karotten, lösten beim satten Gast nur noch ein müdes Lächeln aus, zumal es ja zum Dessert noch ein Bonèt und ein Semifreddo mit einem Stück Haselnusskuchen zu bewältigen gab. Ein «oder» wurde auch hier nicht geduldet. Danach zischte die Tafelrunde eine Flasche Moscato d’Asti oder Brachetto d’Acqui weg, bevor der Grappa für den balsamischen Beistand zum Einsatz kam. Übertrieben? Nein. Und wenn doch, dann schön.
Vieles hat sich seitdem verändert. Zahlreiche Beizen sind mit ihren «Nonne» verschwunden, neue sind entstanden, geführt von jungen Gastgebern, welche die schmerzlichen Lücken der Alten souverän schliessen. Die Fülle an qualitativ guten Lokalen ist im Piemont nach wie vor ungebrochen. Es gibt wohl keinen Landstrich in Europa, in dem es sich derart gut essen und trinken lässt. Erfreulich ist auch, dass sich zahlreiche Winzer rückbesinnen und mit der Unsitte aufhören, ihre Provenienzen zu Alkoholbomben auszubauen.
Ein Grignolino muss seine Leichtigkeit behalten, er muss im Glas rubinrot leuchten, und ein Nebbiolo hat nichts im Barrique zu suchen. Der vor einigen Jahren verstorbene Bartolo Mascarello brachte es mit seiner politischen Zwischennote auf den Punkt: «No Barrique, no Berlusconi.» Seit seinem Tod führt die Tochter sein Lebenswerk weiter. Trotz schwerem Erbe ist es ihr gelungen, die Eigenheit und die Qualität der Weine beizubehalten. Allerdings kostet in der Schweiz so ein Barolo um die 240 Franken, was dem Weinfreund das Trinken natürlich nicht gerade erleichtert.
Grossartige Barolos produziert Lorenzo Accomasso in La Morra. Der legendäre Winzer ist zwar müde, über sein Alter schweigt er sich aus, und plaudern mag er eh nicht. Schon gar nicht über seine Weine. Viel lieber rede er mit jungen Frauen oder gehe mit ihnen Tango tanzen. Das halte ihn jung. Bei der Frage, wie lange er schon Weine mache, wirds philosophisch: «Schon immer.» Und bei seiner Antwort auf die Frage, wie er den Einsatz von Barrique beim Ausbau des Barolos beurteile, wirds sinnlich: «Man wechselt vielleicht die Frauen, aber man ändert nie seine Weine.» Und wer wissen will, wie er denn seine unvergleichlichen Barolos herstellt, wie er in den Reben, im Keller arbeitet, dem wird Accomasso mit einem langen Seufzer antworten: «Ja, wie wohl? Die Trauben müssen reif sein, einfach reif. Der Rest geht von selbst.» Es ergibt tatsächlich mehr Sinn, mit ihm über Frauen zu philosophieren.
Über Isabel Oberlin zum Bei spiel, die sympathische Gastgeberin im Ristorante Fre in Monforte d’Alba. «Dopo!» Lorenzo Accomasso schenkt, wenn er einen denn überhaupt empfängt, grosszügig ein und nach. Gespuckt wird bei ihm nicht, sondern geschluckt. Sein Barolo «Rocche» ist schnell leergetrunken. Ein tiefes Dunkelrot aus Beerendüften mit kräftigem Abgang bleibt in Erinnerung. Der «Rocchette» kommt ins Glas, und obwohl Accomasso seine Gäste gerne in Trance murmelt, ist der Gaumen hellwach. Was für eine tiefschwarze, animalische Steigerung. «Die Zukunft gehört den Winzerinnen. Sie sind stark im Kommen», sagt der Meister, steht auf und verabschiedet sich. Lorenzo Accomasso ist einer der letzten Traditionalisten und Barolisti, ein piemontesisches Urgestein und bescheidener Cavaliere, von Italien für seine Verdienste ums Land geehrt.