05.04.2022 Salz & Pfeffer 2/2022

Übers Lehrbuch hinaus

Interview: Sarah Kohler – Fotos: Daniel Ammann
Ein Blick auf ihren Werdegang macht klar: Ein Hotel führen kann Claudia Pronk. Im Nira Alpina in Silvaplana beweist sie sich als umsichtige Gastgeberin – und cleverer Teamplayer.

«Natürlich können nicht alle so verrückt sein wie ich.»

In Ihrem Team heisst es: Claudia Pronk ist das Nira Alpina, das Nira Alpina ist Claudia Pronk. Wie sehen Sie das?
Claudia Pronk: Das stimmt irgendwie. Ich stehe voll hinter dem Hotel, nehme es sehr persönlich und viel mit nach Hause – auch wenn ich am Ende die Managerin bin, nicht die Eigentümerin.

Inwiefern setzen Sie diese Identifikation mit dem Betrieb bei Ihren Leuten voraus?
Tatsächlich erwarte ich von meinen Angestellten viel. Darüber denke ich ab und zu nach: Kann ich die Latte für sie so hoch legen wie für mich?

Und?
Ich denke schon. Natürlich können nicht alle so verrückt sein wie ich, aber in unserem Team sind viele sehr gern hier und scheuen sich nicht, ein bisschen mehr zu machen. Es zählen jedoch nicht nur die Stunden und Tage, sondern geht auch um die inhaltliche Identifikation: Wir sind das Nira Alpina, wir wollen hier einen bestimmten Stil pflegen. Meine Leute wissen, dass ich mich überall einmische und Bescheid wissen will, aber ich lasse ihnen auch viele Freiheiten. Sie dürfen mitbestimmen, Ideen einbringen. Ein gutes Beispiel ist das Schutzkonzept, das wir während der Pandemie hatten.

Erzählen Sie!
Seit Ausbruch der Pandemie vor zwei Jahren redeten wir viel, fällten alle Entscheidungen diesbezüglich im Team. Tragen wir auch nach Wegfallen der behördlichen Anordnung noch Maske? Wie kulant sind wir bei Stornierungen? Für mich ist der Leitfaden immer: das Richtige tun, also nicht nur nach Lehrbuch handeln, sondern eine Situation individuell anschauen. Ich komme von grossen Ketten und habe bei diesen wahnsinnig viel gelernt, aber im Nira Alpina ist es eben schön, dass wir unseren eigenen Weg definieren, flexibel reagieren können. Klar haben wir Guidelines, was Stornierungen angeht, aber wenn die Absage eines Gastes, der jedes Jahr bei uns Ferien macht und im Restaurant isst, genau in die Stornofrist fällt, machen wir vielleicht auch mal eine Ausnahme. Ich gebe den Rahmen vor, innerhalb dessen mein Team entscheidet. Es ist spannend, zu sehen, was passiert, wenn man Menschen die Verantwortung überträgt.

Wie wählen Sie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus?
Zuallererst: nach ihrer Freundlichkeit. Ob jemand die Kasse schon versteht oder mit dem Buchungssystem umgehen kann, ist in dem Moment irrelevant.

Fachkräftemangel macht dem Schweizer Gastgewerbe zu schaffen. Wie geht es Ihnen?
Das Thema beschäftigt uns auch. Im Housekeeping haben wir viele langjährige Angestellte, für diese Konstanz bin ich sehr dankbar, gerade auch, weil Hygiene noch wichtiger wurde. Andere Bereiche sind schwierig, Service zum Beispiel. Da zerbrechen wir uns den Kopf darüber, wie wir die Positionen attraktiver gestalten könnten. Mit vielen Teildiensten ist der Job noch recht altmodisch konzipiert.

Woran denken Sie?
Vielleicht könnten wir einen Durchdienst einführen, sodass jede und jeder im Team zwei-, dreimal die Woche keine Zimmerstunde hätte. Dafür müssen wir allerdings unser Lunchbusiness ankurbeln, denn wenn wir nur Frühstück und Abendessen haben, ergibt sich dazwischen eine Pause. Wie auch immer: Leute für den Service zu finden bleibt eine Herausforderung. Wir haben dieses Jahr zum ersten Mal auch Menschen im Team, die bei Stellenantritt kein Deutsch sprachen. Das geht gegen mein Prinzip, aber die Situation erfordert, dass man gewisse Regeln irgendwann über Bord wirft. Ich glaube, dass die Gäste mit ein paar Angestellten, die die Sprache nicht beherrschen, umgehen können. Das A und O ist, dass sie sich gut aufgehoben fühlen. Das gilt überall auf der Welt.

Aber unterscheidet sich die Vorstellung davon nicht je nach Kultur?
Die Basis ist immer das Bedürfnis, sich wohlzufühlen. Aber ja, bei der Umsetzung erwarten die Menschen in Asien sicher etwas anderes als hier.

Sie sind in der Welt herumgekommen. Wie fliesst diese Erfahrung ins Nira Alpina ein?
Ich glaube, da blieb viel Asien hängen. In Bezug aufs Essen, aber auch in meiner Einstellung. Ob auf den Malediven oder in Bangkok: Ich hatte mit sehr fordernden Menschen zu tun, bewegte mich in einer Kultur, in der erwartet wird, dass man alles für die Gäste macht und rund um die Uhr zur Verfügung steht. Da muss man schlucken können, was ich nicht schlecht finde: es nicht persönlich nehmen und eine Lösung suchen. In der europäischen Kultur wird das Dienen leider als etwas Minderwertiges angesehen, in Asien jedoch sind die Leute stolz auf diesen Job. Ich lernte in den Jahren sicher auch, mit vielen Menschen zusammenzuarbeiten, egal, woher sie kommen.

Wie war das?
Auf den Malediven hatten wir 24 Nationalitäten im Team. Die mussten alle miteinander im Resort essen, schlafen, leben. Auf sehr wenig Raum.

Konflikte sind da programmiert.
Statistisch gesehen, müsste es fast jeden Tag eine Schlägerei geben, aber erstaunlicherweise funktioniert das. Man muss den gemeinsamen Nenner kennen: Alle leben weit entfernt von ihren Familien. Nummer eins in der Personalunterkunft war deshalb funktionierendes Internet, Nummer zwei das Essen, Nummer drei das Cricket-Feld. In dieser Reihenfolge. Wenn das passte, war alles gut. Auf einer Insel unternimmt man viel Soziales im Team, ich musste auch Cricket spielen oder Karaoke singen. Da lachten sich jeweils alle tot.

Wie schwierig ist es, die Balance zwischen Nahbarkeit und Hierarchie zu finden?
Mir ist die Nähe zum Team wichtig, ich frage auch mal, wie es der Familie daheim geht. Und doch müssen alle Angestellten wissen, wer die Chefin ist. Nach aussen hin ist das anders: Auf den Malediven lief ich im gleichen Outfit wie alle Manager herum – Leinen, Flipflops, Sonnenbrille –, da kam es vor, dass die Gäste mich fragten, ob ich die Spa-Managerin oder die Krankenschwester sei. Ich fand das ganz gut so. Hier stehen wieder andere Themen im Vordergrund. Ich schaue die Überstunden beispielsweise sehr genau an, damit das Verhältnis zwischen Auf- und Abbauen stimmt. In meinem Job braucht es die Fähigkeit, sich an die jeweiligen Gegebenheiten vor Ort anzupassen.

So viel Flexibilität ist toll. Aber es muss einen Punkt geben, der nicht verhandelbar ist.
Na ja, wenn man eine Armee von Leuten hat, geht im Prinzip alles. Wenn der Fünf-Sterne-Gast auf den Malediven seinen Nachbarn nicht mag, der notabene 20 Meter weiter wohnt, trommle ich für ihn 20 Techniker zusammen, die eine Abschottung bauen. Alles wird berechnet, kein Thema. Hier müssen wir ab und zu auch sagen: Das geht leider nicht – obschon das meinem Prinzip von Gastfreundlichkeit widerspricht. Wenn ich von mir aus mal Nein sagen würde, ginge es vermutlich darum, meine Leute zu schützen. Natürlich ist es das Ziel, Umsatz zu generieren, aber ich muss so haushalten, dass mein Personal am Ende der Saison nicht am Boden liegt. Anfang Jahr zum Beispiel hatten wir wegen Covid-19 viele Ausfälle gleichzeitig und ich fragte mich, wie wir das bewerkstelligen sollten. In so einem Moment ist es wichtig, nicht die Last der Welt auf den eigenen Schultern tragen zu wollen, sondern das Gespräch zu suchen. Die Lösungen kommen aus dem Team.

Was haben Sie getan?
Wir teilten allen Gästen vor der Anreise mit, das Zimmer könne vielleicht nicht täglich gereinigt werden. Unser Schlusssatz im Brief lautete: Wenn Sie meinen, dass das Ihren Urlaub in irgendeiner Weise negativ beeinflusst, rufen Sie uns an und wir finden eine Lösung. Bei den Gästen kam das so toll an, die verzichteten explizit auf Services, um die Mitarbeitenden zu unterstützen. Aber mein Herz als Hotelière blutete schon. Dafür gaben wir den Gästen beim Check- out einen Rabatt, ohne diesen im Vorfeld kommuniziert zu haben. Auch dieser Vorschlag stammte übrigens aus dem Team.

Sie müssen gegenüber der Eigentümerin Ihrerseits Rechenschaft ablegen. Wie kommen solche Aktionen da an?
Grundsätzlich stosse ich damit auf Akzeptanz und geniesse viel Freiheit. Ich bin hier, um zu bleiben, und denke für das Hotel – langfristig gesehen. Und das zählt am Ende.

Sie engagieren sich nicht nur fürs Hotel, sondern auch für den Standort Silvaplana. Warum ist Ihnen das wichtig?
Ich finde es cool, wie hier zusammengearbeitet wird. Der Gemeindepräsident ist ein Touristiker, es gibt diverse Gastbetriebe in der Gegend und wir basteln Packages, die gemeinsam vermarktet werden. Ich selbst sitze seit zwei Jahren in der Tourismuskommission, was wertvoll ist, weil ich mitmischen kann und weiss, was im Dorf läuft. Seit eineinhalb Jahren bin ich zudem im Vorstand der Sektion Silvaplana-Sils-Maloja von Hotelleriesuisse.

Wann erledigen Sie das alles?
Zwischendurch. Das sind ja keine langen Meetings, es geht uns allen gleich. In der Zwischensaison, wenn mehr Zeit ist, treffen wir uns auch einmal zum Apéro. Langsam reicht es allerdings schon mit Aufgaben, wobei ich die neue Initiative Think Big Silvaplana auch noch spannend fand und mich da nun ebenfalls beteilige. Dafür waren explizit viele Frauen angefragt worden.

Sie haben sich über die Jahrzehnte sehr erfolgreich in einer Männerdomäne behauptet: Ist das für Sie überhaupt ein Thema?
Nicht wirklich, wenn ich ehrlich bin, aber ich werde oft darauf angesprochen. Musste ich härter arbeiten als andere? Das kann sein. Ich erinnere mich, dass ich in Paris in eine echte Männerwelt geriet, das ist nun aber 30 Jahre her. Damals war ich als erste Frau die Nummer zwei des Hotels, unter einem echten Macho-Franzosen, der das Gefühl hatte, er sei jetzt modern. Die ersten drei Monate waren schwierig, aber ich fand einen Weg. Anschliessend wechselte ich nach Den Haag, ins tollste Hotel der Stadt, sehr sophisticated. Ich war 34 Jahre alt, frischgebackene Direktorin, begleitete einen Riesenumbau, und plötzlich dachten die Leute, ich wisse über alles Bescheid. Nun ja: Nach und nach habe ich mehr Selbstvertrauen gewonnen – und rückblickend glaube ich, dass ich es nie so ganz falsch gemacht habe.

Zur Person
Seit November 2015 amtet Claudia Pronk (53) als Direktorin des Hotels Nira Alpina in Silvaplana. Zuvor absolvierte die gebürtige Niederländerin eine ambitionierte Karriere in der Luxushotellerie, was ihr an den Worldwide Hospitality Awards 2017 in Paris die Auszeichnung Best Hotelier bescherte. In Frankfurt, Paris und Den Haag arbeitete Pronk für Häuser der Ketten Le Méridien respektive Starwood (heute Marriott), auf Mauritius eröffnete sie als General Manager das The Grand Mauritian, auf den Malediven und in Bangkok war sie in gleicher Position für Anantara tätig. In die Schweiz kam Pronk 2013, zuerst nach Davos, zwei Jahre später nach Silvaplana. Im Auftrag der indischen Shanti Hospitality Group führt sie hier das Vier-Sterne-Superior-Haus mit 70 Zimmern und Suiten, vier Gastronomiekonzepten, einer Bäckerei, einem Spa-Bereich und direktem Zugang zur Corvatsch-Bahn. Pronk ist verheiratet und hat einen 14-jährigen Sohn. Neben ihrem Job als Hoteldirektorin engagiert sie sich in der Tourismuskommission, im Vorstand der Sektion Silvaplana-Sils-Maloja von Hotelleriesuisse sowie für die Initiative Think Big Silvaplana. Energie tankt sie bei Aktivitäten in der Natur und beim Sport... zum Beispiel, wenn sie frühmorgens vor Arbeitsbeginn zehn Kilometer joggt.

Nira Alpina, Via dal Corvatsch 76, 7513 Silvaplana, 081 838 69 69, niraalpina.com