01.09.2020 Salz & Pfeffer 5/2020

Virtuos am Werk

Interview: Sarah Kohler – Fotos: Jürg Waldmeier
Strikt in der Haltung, offen im Geist: Carlos Navarro kocht im Zürcher Rechberg 1837, wozu ihn das Leben inspiriert.
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«Als Bub fühlte ich mich in der Küche wie auf einem Piratenschiff.»

Lassen Sie uns erst zurückschauen: Sie sind in der Gastronomie grossgeworden.
Carlos Navarro: Sozusagen. Meine Eltern hatten sich früh getrennt, und die Zeit, die mein Bruder und ich mit meinem Vater hatten, verbrachten wir hauptsächlich in dessen Restaurant. Wir halfen mit, rüsteten zum Beispiel Zwiebeln. Die Küche faszinierte mich schon immer, vor allem auch der menschliche Aspekt.

Wie meinen Sie das?
Mein Vater stammt aus ländlichen Verhältnissen in Spanien. Als er in die Schweiz kam, arbeitete er nicht in erster Linie mit professionellen Gastronomen zusammen, sondern eher mit seinen Landsleuten oder mit Menschen aus anderen Nationen. Das ergab eine kunterbunte Mischung an Sprachen und Mentalitäten und liess Raum für viele kulinarische Einflüsse. Ich liebte die Stimmung, die brodelnden Töpfe, die Geräusche und Gerüche. Als Bub fühlte ich mich in der Küche wie auf einem Piratenschiff.

Schon klar, dass Sie Koch werden wollten.
Zumindest ein Stück weit lag das auch an meinem Nachbarn; acht Jahre älter, gelernter Koch und für mich ein grosses Vorbild. Er arbeitete in verschiedenen Betrieben, in denen ich ihn manchmal besuchte. Da trugen die Leute Kochjacken und Hüte, und ich als Teenager fand dieses Uniformierte schon auch cool. Dann absolvierte ich die Lehre in einem klassisch französischen Restaurant, der Umgangston war rau und ich hatte zu kämpfen. Ich verstehe das noch immer nicht: Warum geht man in einem Beruf, der eh schon sehr streng ist, grob miteinander um? Das löschte mir zwischenzeitlich echt ab. Das Kochen wollte ich deswegen aber nie aufgeben; es gibt mir so viel.

Was denn?
Ich mag es, dass ich damit Freude bereiten kann. Wer kocht, macht Menschen glücklich, wer sich mit positiven Vibes umgibt, ist selber froh. Und nie hungrig. Sie wirken nicht nur, aber auch was den Beruf angeht, sehr leidenschaftlich. So bin ich. Ich knie mich voll rein. Als ich beim Caterer Franzoli war, kochte ich nach der Arbeit daheim weiter. Und die ersten zwei Jahre im Rechberg verliess ich die Küche kaum: Ich war ständig hier, nahm Tiere auseinander, machte Lebensmittel ein. Wenn ich rausging, dann aufs Feld, zu den Produzenten. Das war schon cool.

Heute überlassen Sie die Küche immer öfter Ihrem Team.
Das hat mehrere Gründe. In erster Linie sind wir ein Team mit einem unglaublichen Potenzial: Alle übernehmen Verantwortung und bringen grosse Freude in die Küche. Diese Dynamik hebt unser Schaffen auf ein neues Level, und weil wir die Verantwortung teilen, habe ich auch Luft, mich wieder mehr den kreativen Arbeiten zu widmen und meinen Horizont zu erweitern. Um die Grenzen zwischen Küche und Service zu brechen, schufen wir beispielsweise einen Dienst, bei dem wir Köche auch im Gastraum präsent sind. Das alles hilft mir, ein besseres Verständnis fürs grosse Ganze zu bekommen. Ich erlebte einen grossen Schub an Freude und Motivation, erfuhr viel über mich und meine Rolle im Team.

Können Sie das erklären?
Ich lernte, mich in gewissen Situationen zu zügeln und den anderen Teammitgliedern mehr Raum zu lassen. Ich bin eher laut, vor allem in meiner Begeisterung: Wenn mir etwas gefällt, will ich darüber reden, mein Umfeld dafür gewinnen. Ich erkannte, dass diese Art die Freude und Motivation meine Kollegen ersticken und dazu führen kann, dass sich jemand fragt: Warum bin ich selbst nie so wahnsinnig überzeugt von meinen Ideen? Also halte ich mich etwas zurück.

Ist das nicht schade?
Ich verliere meinen Enthusiasmus ja nicht, ich teile ihn nur gezielter. Und ich glaube, ich habe in meiner Kommunikation grosse Fortschritte gemacht.

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«Bluemige Guguus: Bluemechol als Gusgus, Gräm und gröschteti Rösli, in Begleitig vo iigleite Barille und verschiednige Blüete vom Fäld»
«Bluemige Guguus: Bluemechol als Gusgus, Gräm und gröschteti Rösli, in Begleitig vo iigleite Barille und verschiednige Blüete vom Fäld»
Sie lieben Kunst und verspielte Details: die Rechberg- Pächter Alexander Guggenbühl, Carlos Navarro, Raphael Guggenbühl und Celine Horst (auf dem Brett von links).
Sie lieben Kunst und verspielte Details: die Rechberg- Pächter Alexander Guggenbühl, Carlos Navarro, Raphael Guggenbühl und Celine Horst (auf dem Brett von links).
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«Zermürggele: E garamelisierti Gräm vom Ämmitaler Mürggel mit emne Chabis-Sorbee»
«Zermürggele: E garamelisierti Gräm vom Ämmitaler Mürggel mit emne Chabis-Sorbee»
Die Küche im Quartett (von links): Carlos Navarro mit Sinan Guhmann, André Bento und Cédric Campera
 Die Küche im Quartett (von links): Carlos Navarro mit Sinan Guhmann, André Bento und Cédric Campera
«Rio-Chriesi-Tokyo»
«Rio-Chriesi-Tokyo»
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Ihre Abwesenheit in der Küche hat noch einen weiteren Grund.
Genau. Wir befassen uns schon seit einer Weile mit modernen Organisationsformen und arbeiteten unter uns Pächtern von Beginn an mit flachen Hierarchien. Momentan erweitern wir diese Struktur auf den ganzen Betrieb. Wir sind überzeugt, dass ein Team, in dem sich alle auf Augenhöhe begegnen, mehr Potenzial hat als eins, in dem eine Person bestimmt, was zu tun ist – zumal meine Mitarbeiter alle grossartige Charaktere sind, die ihr Herz am rechten Fleck haben, gern arbeiten und bereit sind, dabei einen Teil von sich preiszugeben. Sie streben nicht verbissen nach institutioneller Anerkennung, sondern wollen schön kochen und Freude bereiten. Ich habe grosses Vertrauen in ihre Arbeit.

Inwiefern läuft das bei Ihnen nun anders?
Wir haben die klassischen Küchenchefarbeiten aufgeteilt: Dienstpläne, Menüentwicklung, Bestellungen. Traditionell ist die Küche ja sehr hierarchisch aufgebaut, bei uns gibts nun Kompetenz- und Verantwortungsbereiche. Kürzlich führten wir als Team einen Workshop durch, in dem wir nicht nur die Ziele für die nächsten drei Jahre definierten, sondern eben auch diese Bereiche zuteilten.

Wie ging das vonstatten?
Im Vorfeld hatte jeder einen Monat Zeit, um zu überlegen, was er bei der Führung einer Küche wichtig findet. Im Workshop sammelten wir unsere Erkenntnisse, beschrieben Hunderte von Post-its, sortierten, werteten aus – und hatten am Ende vier Bereiche festgelegt: Unterstützung, Organisation, Entwicklung und Ordnung. Die Zuständigkeiten ordneten wir gemeinsam zu; den Persönlichkeiten und Interessen entsprechend.

Nämlich?
Für die Ordnung – in der Küche wie im Geist – ist André Bento zuständig. Er kennt nicht nur die Abläufe besser als jeder andere, sondern sorgt in Momenten, in denen wir anfangen rumzublödeln, ohnehin immer dafür, dass wir uns fokussieren. Ein klarer Fall war auch, dass Sinan Guhmann die Entwicklung übernimmt: Er steckt voller Ideen und ist extrem kreativ, sein Feuer lodert und er bringt ständig neue Impulse ein. Cédric Campera hat den Gesamtüberblick und grosses organisatorisches Talent. Er kümmert sich im Bereich Unterstützung um allerhand Administratives, um die Dienstpläne beispielsweise, die Bestellungen oder die Lagerbewirtschaftung Und ich bin für den Bereich Organisation zuständig: also für generelle Strukturen und Abläufe, die Planung von Events oder den Einsatz der Infrastruktur.

Der Rechberg ist ja ein Projekt unter Freunden: Ihre Mitpächter kennen Sie seit vielen Jahren. Ist da eine berufliche Zusammenarbeit eine gute Idee?
Ja, weil das Vertrauen stimmt: Am Ende lieben wir uns – manchmal sogar so fest, dass wir uns an die Wand klatschen könnten. Nein, im Ernst: Es ist wirklich toll. Wir entwickeln uns gemeinsam weiter und die Zusammenarbeit ist für uns alle inspirierend.

Ihre Ausrichtung indes wirkt recht konstant.
Unser Konzept – dass wir uns am Baujahr des Gebäudes, 1837, orientieren – bleibt, ja. Wir zelebrieren die Nähe zur Saison und zum Produkt, die damals gegeben war, verzichten auf Hilfsmittel sowie verarbeitete Produkte, verkochen nur ganze Lebensmittel und kaufen lokal ein. Im Rechberg bekommt der Gast keine Schokolade, und wir kennen jede Zutat, die wir brauchen, genau – vom Salzkorn bis zum Evolèner. Wir wissen, wie unsere Produzenten arbeiten, und beschäftigen uns mit dem Thema Landwirtschaft. So lernen wir dazu – was automatisch dazu führt, dass wir uns verändern. Wir werden konsequenter, gefestigter. Wir sagen öfter Nein. Seien wir ehrlich: Was wir tun, ist aufwendig und finanziert keinen Ferrari. Uns allen ist aber die Freiheit wichtiger, nachhaltig und fair zu wirtschaften. Wir kochen, woran wir glauben, kaufen Teller von Helga Ritsch und bieten unseren Musikern eine anständige Gage. Die Verbindung von Kulinarik und Kunst, insbesondere Jazzmusik, ist im Rechberg ein gewichtiges Thema.

Wie kommts?
Es ist im Rahmen unserer Events, bei denen Musik und Essen in Verbindung treten, wahnsinnig spannend, zu sehen, wie nah sich die Schaffungsprozesse sind. Ob in der Musik oder Malerei, beim Schreiben oder Kochen: Man drückt sich aus, wenn auch mit anderen Perspektiven. So gesehen: Mein Instrument ist der Herd!

Haben Sie dafür ein Beispiel?
Es mag kitschig klingen, aber ich mag das Stück «So What» von Miles Davis sehr gern. Man versteht es auch ohne grossen Bezug zur Musik. Im Rahmen des Auftritts des Marcio de Sousa Electric Trio im Rechberg kochten wir dazu ein Gericht. In der Besprechung mit den Künstlern arbeiteten wir heraus, dass im modalen Jazz eine Abfolge von Tönen in verschiedenen Höhen nacheinander gespielt wird. Daran orientierten wir uns auf dem Teller: Wir kochten Rind, Rande und Sellerie, jede Komponente dreimal, in jeweils verschiedenen «Tonlagen» – also Konsistenzen. Da stand etwa ein kaltes Selleriepüree für die sphärische Basis, während das warme, geröstete Pendant die tiefere Tonlage spiegelte. Solche Kooperationen beflügeln mich total: Sie bedingen, dass man über die eigene Kunst, Herangehensweise und Machart redet. Das mag sich wie ein Striptease anfühlen, inspiriert aber extrem – und zeigt oft, wie ähnlich man sich ist.

Als Sohn des Zürcher Kultbeizers Tony Navarro verbrachte Carlos Navarro (33) bereits als Kind viel Zeit in der Küche. Die Faszination für den Kochberuf führte ihn als Lehrling in die Wirtschaft zur Höhe in Zollikon, in der er eine klassisch französische Ausbildung erhielt. Es folgten verschiedene Stationen in der ganzen Schweiz, unter anderem im The Dolder Grand und im Mesa in Zürich oder im Heimberg in Parpan. Anschliessend sammelte Navarro Erfahrung beim Caterer Franzoli, bei dem er zuletzt als Souschef tätig war. 2016 übernahm er gemeinsam mit Celine Horst sowie Raphael und Alexander Guggenbühl das Restaurant Rechberg 1837 im Zürcher Niederdorf. Hier führt er die Küche.

Rechberg 1837
Chorgasse 20, 8001 Zürich
044 222 18 37
rechberg1837.com