«Wenn ich in eine kurzfristige Lebensmittelproduktion hätte einsteigen wollen, wäre ich Milchbauer geworden.»
Etwas vom Schönsten sei es, sagen Sie, wenn Sie gemeinsam die Reben schneiden. Wie darf man sich das so vorstellen?
Johann-Baptista von Tscharner (JB): Fürs Schneiden sind wir zwei zuständig, sonst kaum jemand. Die einfacheren Parzellen machen wir einzeln, aber die schweren Fälle schauen wir gemeinsam an.
Gian-Battista von Tscharner (GB): Schneiden ist wahnsinnig kreativ: Jede Rebe ist ein Individuum, hat ihre Stärken und Schwächen – wie ein Mensch. Hat die Rebe dicke Schosse oder dünne, ist sie stark oder schwach, war sie im Vorjahr krank? Das sieht man und schneidet entsprechend. Manchmal gibt es aber mehrere Wege.
JB: Dann diskutieren wir, fragen einander. Weil man immer für zwei Jahre schneidet, ist es elementar, dass der Arbeitsschritt sitzt.
Sind Sie sich denn immer einig?
JB: (lacht) Beim Schneiden schon.
GB: Sonst nicht, aber das ist ganz gut so.
JB: Diskussionen sind förderlich. Ich habe einen anderen Hintergrund als mein Vater, machte im Studium sämtliche Arbeiten über Wein, hatte meine Reben und ein Labor. Er ist grösstenteils Autodidakt und verlässt sich oft auf sein Gespür, gerade auch im Keller.
Gibts dafür ein Beispiel?
JB: Wenn die Frage im Raum steht, ob wir pressen sollen, krempelte er jeweils die Ärmel hoch, griff rein, biss in die Trauben, schmeckte, probierte – und sagte dann: Warten wir noch, ein paar Stunden oder einen Tag. Mich lehrte man das Gegenteil: Sei nie beim Produkt, sondern immer im Labor. Also mass ich: Farbnuancen, Farbanteil, Polyphenole und, und, und. Dann konnte ich die Resultate vergleichen. Ganz ehrlich: Der «Labor-Wein» schmeckte miserabel (lacht). Heute setze ich auf ein Gemisch: Was profitiere ich vom analytischen Teil, den ich gelernt habe? Was von der Erfahrung meines Vaters? Natürlich sind wir nicht immer einer Meinung, aber wir haben zum Glück eine ähnliche Grundphilosophie und wissen, wo wir das Endprodukt haben möchten. Wenn ich einen topmodernen, einfachen Wein machen wollte, den man sofort trinkt, hätten wir sicher Streit.
GB: Dann wärst du nicht hier.
JB: Das stimmt nicht. Du würdest trotzdem kaum sagen: Ich gebe den Betrieb einem anderen.
GB: Da wär ich mir nicht so sicher (lacht).
Was lernen Sie denn von Ihrem Sohn?
GB: Das ist eine schwierige Frage. Ich nehme manches zur Kenntnis, für anderes bin ich aber einfach zu alt. Zum Beispiel beim Thema Pflanzenschutz: Heute ist es eine Riesenaufgabe, naturnah und rechtzeitig mit dem Spritzen zu sein, eine richtige Wissenschaft, viel schlimmer als früher. Da bin ich froh, dass mein Sohn beweglicher ist und sich darum kümmert. Und hie und da lerne ich von seiner mich fast verrückt machenden Ruhe.
Wer von Ihnen ist der Chef?
GB: Das sind wir beide.
Und das funktioniert?
JB: Es geht sogar gut.
GB: Im Betrieb sind wir zwei plus zwei Portugiesen; einer ist seit 30, einer seit bald 20 Jahren dabei. Dann haben wir noch einen, der sich um den Garten und alles Maschinelle kümmert und auch beim Wimmeln hilft. Auch er ist seit 15 Jahren auf Reichenau. Das spricht, glaube ich, für uns. Wenn Fragen zum Keller auftauchen, gehen alle zu Johann-Baptista, bei Fragen zu den Reben kommen sie eher zu mir.
JB: Er hat viel mehr Erfahrung im Rebberg, ich kanns im Keller technologisch nicht schlecht. Wichtig ist mir, dass mein Vater seine Meinung nach wie vor sagt. Wir sind offen miteinander.
GB: Und wir entscheiden viel gemeinsam, grad in den Anfängen eines Weins, bei der Gärung und wenns ums Pressen geht. Man sieht vieles der Maische an; wenn sie sich violett verfärbt und die Temperatur fällt, ist sie pressreif, das merkt man mit der Hand. Aber das macht er mittlerweile auch so.
Haben sich Ihre Weine verändert, seit Sie zusammenarbeiten?
JB: Das fragen Sie besser jemand anders. Ich behaupte mal: Die Weissweine wurden tendenziell eleganter.
GB: Weniger barock.
JB: Weil mein Vater früher noch später las, mit mehr Zucker, und so schwerere Weissweine produzierte.
GB: Nur Gewürztraminer und Pinot gris.
JB: Pinot blanc auch. Lies die Statistiken, die ich immer mache.
GB: (lacht)
JB: Ich wollte gern etwas feiner werden; immer noch schwer für Graubünden, bloss einen Zwick eleganter. Die Rotweine blieben en gros ähnlich – weil wir eben das gleiche Ziel haben: haltbare Weine machen.
Sie kritisieren, dass Schweizer Weine zu kurz gelagert würden. Warum?
JB: Es gibt Weine, die sollte man sofort trinken, aber unsere kann man lagern. Sie werden besser.
GB: Darum haben wir auf Schloss Reichenau ein Archiv, in dem wir von jeder Abfüllung, die hier gemacht wird, einige Flaschen aufbewahren. Rund 6000 Flaschen sind das mittlerweile, darunter 40-jährige Weine aus meinem Anfangsjahr.
Sie haben die Lagerfähigkeit also früh erkannt.
GB: Wenn ich in eine kurzfristige Lebensmittelproduktion hätte einsteigen wollen, wäre ich Milchbauer geworden – ohne zu käsen. Weil mein Vater zwölf Jahre den Schweizerischen Weinbauverein präsidierte, kam ich in jungen Jahren mit vielen grossen Fachleuten aus der Schweiz und aus Deutschland in Kontakt. Darunter waren auch solche, die alte Weine im Keller hatten, und so kam ich ins Trinken alter Weine rein. Das muss man lernen. Ich begann, jedes Jahr zwei Wochen später abzufüllen. Anfangs tat das weh, weil die Liquidität fehlte. Heute haben wir einen Rhythmus. Aber vom Platz her ist es schwierig, weil wir die Weine erst später in den Verkauf geben. Vom Jeninser Blauburgunder Mariafeld zum Beispiel haben wir zurzeit den 2010er im Verkauf, der 2011 ist abgefüllt, die vier nächsten Jahrgänge sind im Keller. Jetzt kommt der 2016er hinzu. Wir brauchen siebenmal so viel Platz wie andere. Darum bauten wir vor drei Jahren einen neuen Keller, der aber nur eine Berechtigung hatte, weil Johann-Baptista sagte, er übernehme den Betrieb.