24.11.2016 Salz & Pfeffer 8/2016

Vom Vater zum Sohn und zurück

Interview: Sarah Kohler – Fotos: Jürg Waldmeier
Gian-Battista und Johann-Baptista von Tscharner machen in Reichenau gemeinsame Sache und plädieren dafür, Schweizer Weine endlich länger zu lagern. Ein Generationengespräch im Keller.
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«Wenn ich in eine kurzfristige Lebensmittelproduktion hätte einsteigen wollen, wäre ich Milchbauer geworden.»

Etwas vom Schönsten sei es, sagen Sie, wenn Sie gemeinsam die Reben schneiden. Wie darf man sich das so vorstellen? 
Johann-Baptista von Tscharner (JB): Fürs Schneiden sind wir zwei zuständig, sonst kaum jemand. Die einfacheren Parzellen machen wir einzeln, aber die schweren Fälle schauen wir gemeinsam an.
Gian-Battista von Tscharner (GB): Schneiden ist wahnsinnig kreativ: Jede Rebe ist ein Individuum, hat ihre Stärken und Schwächen – wie ein Mensch. Hat die Rebe dicke Schosse oder dünne, ist sie stark oder schwach, war sie im Vorjahr krank? Das sieht man und schneidet entsprechend. Manchmal gibt es aber mehrere Wege.
JB: Dann diskutieren wir, fragen einander. Weil man immer für zwei Jahre schneidet, ist es elementar, dass der Arbeitsschritt sitzt.

Sind Sie sich denn immer einig?
JB: (lacht) Beim Schneiden schon.
GB: Sonst nicht, aber das ist ganz gut so.
JB: Diskussionen sind förderlich. Ich habe einen anderen Hintergrund als mein Vater, machte im Studium sämtliche Arbeiten über Wein, hatte meine Reben und ein Labor. Er ist grösstenteils Autodidakt und verlässt sich oft auf sein Gespür, gerade auch im Keller.

Gibts dafür ein Beispiel?
JB: Wenn die Frage im Raum steht, ob wir pressen sollen, krempelte er jeweils die Ärmel hoch, griff rein, biss in die Trauben, schmeckte, probierte – und sagte dann: Warten wir noch, ein paar Stunden oder einen Tag. Mich lehrte man das Gegenteil: Sei nie beim Produkt, sondern immer im Labor. Also mass ich: Farbnuancen, Farbanteil, Polyphenole und, und, und. Dann konnte ich die Resultate vergleichen. Ganz ehrlich: Der «Labor-Wein» schmeckte miserabel (lacht). Heute setze ich auf ein Gemisch: Was profitiere ich vom analytischen Teil, den ich gelernt habe? Was von der Erfahrung meines Vaters? Natürlich sind wir nicht immer einer Meinung, aber wir haben zum Glück eine ähnliche Grundphilosophie und wissen, wo wir das Endprodukt haben möchten. Wenn ich einen topmodernen, einfachen Wein machen wollte, den man sofort trinkt, hätten wir sicher Streit.
GB: Dann wärst du nicht hier.
JB: Das stimmt nicht. Du würdest trotzdem kaum sagen: Ich gebe den Betrieb einem anderen.
GB: Da wär ich mir nicht so sicher (lacht).

Was lernen Sie denn von Ihrem Sohn?
GB: Das ist eine schwierige Frage. Ich nehme manches zur Kenntnis, für anderes bin ich aber einfach zu alt. Zum Beispiel beim Thema Pflanzenschutz: Heute ist es eine Riesenaufgabe, naturnah und rechtzeitig mit dem Spritzen zu sein, eine richtige Wissenschaft, viel schlimmer als früher. Da bin ich froh, dass mein Sohn beweglicher ist und sich darum kümmert. Und hie und da lerne ich von seiner mich fast verrückt machenden Ruhe.

Wer von Ihnen ist der Chef?
GB: Das sind wir beide.

Und das funktioniert?
JB: Es geht sogar gut.
GB: Im Betrieb sind wir zwei plus zwei Portugiesen; einer ist seit 30, einer seit bald 20 Jahren dabei. Dann haben wir noch einen, der sich um den Garten und alles Maschinelle kümmert und auch beim Wimmeln hilft. Auch er ist seit 15 Jahren auf Reichenau. Das spricht, glaube ich, für uns. Wenn Fragen zum Keller auftauchen, gehen alle zu Johann-Baptista, bei Fragen zu den Reben kommen sie eher zu mir.
JB: Er hat viel mehr Erfahrung im Rebberg, ich kanns im Keller technologisch nicht schlecht. Wichtig ist mir, dass mein Vater seine Meinung nach wie vor sagt. Wir sind offen miteinander.
GB: Und wir entscheiden viel gemeinsam, grad in den Anfängen eines Weins, bei der Gärung und wenns ums Pressen geht. Man sieht vieles der Maische an; wenn sie sich violett verfärbt und die Temperatur fällt, ist sie pressreif, das merkt man mit der Hand. Aber das macht er mittlerweile auch so.

Haben sich Ihre Weine verändert, seit Sie zusammenarbeiten?
JB: Das fragen Sie besser jemand anders. Ich behaupte mal: Die Weissweine wurden tendenziell eleganter.
GB: Weniger barock.
JB: Weil mein Vater früher noch später las, mit mehr Zucker, und so schwerere Weissweine produzierte.
GB: Nur Gewürztraminer und Pinot gris.
JB: Pinot blanc auch. Lies die Statistiken, die ich immer mache.
GB: (lacht)
JB: Ich wollte gern etwas feiner werden; immer noch schwer für Graubünden, bloss einen Zwick eleganter. Die Rotweine blieben en gros ähnlich – weil wir eben das gleiche Ziel haben: haltbare Weine machen.

Sie kritisieren, dass Schweizer Weine zu kurz gelagert würden. Warum?
JB: Es gibt Weine, die sollte man sofort trinken, aber unsere kann man lagern. Sie werden besser.
GB: Darum haben wir auf Schloss Reichenau ein Archiv, in dem wir von jeder Abfüllung, die hier gemacht wird, einige Flaschen aufbewahren. Rund 6000 Flaschen sind das mittlerweile, darunter 40-jährige Weine aus meinem Anfangsjahr.

Sie haben die Lagerfähigkeit also früh erkannt.
GB: Wenn ich in eine kurzfristige Lebensmittelproduktion hätte einsteigen wollen, wäre ich Milchbauer geworden – ohne zu käsen. Weil mein Vater zwölf Jahre den Schweizerischen Weinbauverein präsidierte, kam ich in jungen Jahren mit vielen grossen Fachleuten aus der Schweiz und aus Deutschland in Kontakt. Darunter waren auch solche, die alte Weine im Keller hatten, und so kam ich ins Trinken alter Weine rein. Das muss man lernen. Ich begann, jedes Jahr zwei Wochen später abzufüllen. Anfangs tat das weh, weil die Liquidität fehlte. Heute haben wir einen Rhythmus. Aber vom Platz her ist es schwierig, weil wir die Weine erst später in den Verkauf geben. Vom Jeninser Blauburgunder Mariafeld zum Beispiel haben wir zurzeit den 2010er im Verkauf, der 2011 ist abgefüllt, die vier nächsten Jahrgänge sind im Keller. Jetzt kommt der 2016er hinzu. Wir brauchen siebenmal so viel Platz wie andere. Darum bauten wir vor drei Jahren einen neuen Keller, der aber nur eine Berechtigung hatte, weil Johann-Baptista sagte, er übernehme den Betrieb.

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Zurück zum alten Wein.
JB: Genau. Wir sind der einzige Betrieb in Graubünden, der so lässige, gereifte Weine herausgeben kann. Das ist mir wirklich wichtig. Schliesslich trinke ich als Winzer selber gern Wein – und zwar einen gereiften, einen, der so richtig Spass macht. Die ganze Welt gibt Geld aus, um Franzosen oder Italiener beiseitezulegen, aber die Schweizer Weine haben das entsprechende Image nicht. Warum eigentlich? Manche lassen sich wunderbar lagern. Und es lohnt sich: Denn erst wenn er reif ist, zeigt ein Wein sein ganzes Potenzial. 99,8 Prozent der Schweizer Weine werden sofort getrunken – wir wünschen uns, dass sich das ändert.
GB: Aber eben, das Platzproblem. Wir sind noch nicht so weit wie die Kellereien im Bordeaux oder Burgund, die ihre Weine innert kurzer Frist herstellen und in den Verkauf geben können, im Wissen, dass diese danach gelagert werden. Wir müssen die erste Vorreifung übernehmen, damit sie geschieht. Mehr als fünf Jahre schaffen wir aber nicht, und es wäre schön, der Konsument würde noch zehn weitere Jahre warten.

In den alten Weinen steckt viel Geschichte. Wie emotional ist es denn eigentlich, eine Flasche zu öffnen, die Sie vor 40 Jahren gemacht haben?
GB: Wenn sie gut ist: ungeheuerlich! An einer Weinverkostung öffneten wir kürzlich 30 Flaschen alter Jahrgänge. Unglaublich, was da passierte: vorgezogener Orgasmus! Ein 82er Pinot gris war hinüber, aber bei einem 30-jährigen Weisswein ist das ja auch okay, oder? Der Rest war gut, ein grosser Teil schlicht genial.

Kann man heute haltbarere Weine machen als früher?
JB: Eine schwierige Frage. Man Vater war ein Pionier, hatte früh das Flair, was auch an seiner Geduld liegt, beim Traubenlesen zu warten und den Wein machen zu lassen. Ich kann nicht behaupten, dass die Weine, die wir heute keltern, länger haltbar sein werden als jene aus seinen Anfängen. Wenn ich einen 88er von ihm trinke, muss ich sagen: Das hat er gar nicht so schlecht gemacht (lacht).
GB: Heute gibts einfach immer mehr Freaks, die das Trinken reifer Schweizer Weine entdecken. Als Gründungsmitglied der Vereinigung Mémoire des Vins Suisses freut mich das ungemein. In die Schatzkammer der Mémoire legen die 50 Mitgliedswinzer jedes Jahr 60 Flaschen – da liegt ein ungeheures Erbe. Und jedes Jahr öffnen wir die Schatzkammer zur Verkostung von jeweils vier Jahrgängen, auch für die Öffentlichkeit.

Was erwarten Sie von Ihrem Sohn eigentlich?
JB: Dass ich die Firma nicht grad an die Wand fahre, vielleicht.
GB: Er ist ja, wenn man meinen Vater einrechnet, die dritte Generation. Also mach keinen Seich! Man sagt ja auch: Der Erste baut es auf, der Zweite hat es und der Dritte hat den Grössenwahnsinn und geht Konkurs. Nein, ich wünsche mir, dass er der Sache Sorge trägt. Besser als ich kann er ja nicht werden, so brutal das ist. Dabei würde ich dir das doch so gönnen (lacht).

Und umgekehrt: Was erwarten Sie von Ihrem Vater?
JB: Er lässt mich schon viel machen, was ein grosser Vorteil ist. Aber er sollte meiner Meinung nach noch mehr abgeben – nicht, weil ich ihn nicht dabei haben möchte, sondern für meine Mutter. Er ist pensioniert, aber er involviert sich selber immer wieder, fragt nach.
GB: Es interessiert mich halt. Zu viel darf ich mich nicht zurücknehmen, sonst gehe ich hier mit den Beinen vorwärts raus.

Möchten Sie an dieser Stelle noch etwas zu oder übereinander sagen?
GB: So eine Zusammenarbeit, wie wir sie haben, ist irrsinnig schön und nicht üblich. Wenn ich mich ärgere, rufe ich mir das ins Gedächtnis. Ich kenne einige Betriebe, die mit Nachwuchsproblemen zu kämpfen haben: jammerschade.
JB: Andererseits gibts gerade im Bündner Weinbau junge Top-Leute, die die Branche verändern. Im Gegensatz zur alten Garde sind wir offener.

Was heisst das?
JB: Alle jungen Weinbauern waren irgendwo in der Welt und haben gesehen, was anderswo läuft. Das Know-how ist grösser. Man kennt sich – und man tauscht sich aus.
GB: Früher ging man ja kaum in den Keller eines anderen Winzers und wenn, dann nur, um zu schauen, was der andere falsch macht.

Hat es heute denn mehr Platz für Schweizer Weine?
JB: Nicht wirklich. Aber die Jungen verstehen, dass die gemeinsame Vermarktung schlauer ist. Als Vizepräsident des Branchenverbands Graubünden Wein kämpfe ich fürs Bewusstsein, dass es nichts bringt, wenn jeder Ort für sich steht. Ich habe sogar lieber einen Schweizer Verein wie die Mémoire als eine reine Bündner Organisation – und noch lieber ist mir eine internationale Organisation, weil man über die Grenzen hinweg am meisten lernt. Ich bin sowohl Teil der Jungwinzer der Schweiz wie auch über meinen Vater Mitglied der Mémoire und sehe nur schon im Vergleich der beiden Institutionen, wie unterschiedlich die Generationen sind. Das sind Welten. So offen wie bei den jungen Winzern wird bei den Alten nie geredet.
GB: Aber wir haben schon auch ein wahnsinnig freundschaftliches Verhältnis.
JB: Klar, aber kein so ehrliches wie wir Jungen, die zusammen Party machen.
GB: Dafür haben die Alten einen seriösen Verein (lacht). Können wir Ihnen einen Aperitif anbieten?

Weinbau von Tscharner, Schloss Reichenau, 7015 Reichenau, 081 641 11 95, www.reichenau.ch

Gian-Battista von Tscharner (68) wuchs in Maienfeld auf und entwickelte früh einen Bezug zum Weinbau, weil der Vater sich als Hobby Reben angeschafft hatte. Selbst studierte er nach der Matura Agronomie und Agrotechnologie. Aufs Schloss Reichenau zog er 1975 gemeinsam mit seiner Mutter, nachdem seine Grossmutter, die hier gewohnt hatte, verstorben war. Gian-Battista von Tscharner engagierte sich beim Umbau des Hauses, der auch den Keller umfasste. Zur selben Zeit bekam er seinen ersten Pachtvertrag für Reben in Jenins, eine halbe Hektare, aus der im Laufe der Jahre bis zu gut sechs Hektaren in Feldberg, Chur, Jenins und Maienfeld werden sollten (Stand heute: 5,3 Hektaren). Im Herbst 1976 begann der junge Mann zu keltern und übernahm die Verwaltung des Betriebs. Vier Jahre später heiratete er seine Frau Anna, mit der er drei Kinder hat: Marina (33, Geologin und frischgebackene Mutter), Francesca (31, in einem 50-Prozent-Pensum Eventverantwortliche im Familienbetrieb) und Johann-Baptista (30).

Johann-Baptista von Tscharner wuchs auf Schloss Reichenau auf (wo er nach wie vor lebt). Nach der Matura studierte er an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Wädenswil Lebensmittel- und Getränketechnologie. Anschliessend zog es ihn für ein halbes Jahr nach Neuseeland, wo er herumreiste und drei Monate auf einem Weingut arbeitete, um Erfahrungen zu sammeln. Seit seiner Rückkehr übernimmt er Schritt für Schritt den Weinbau der von Tscharners. Um sich ausserhalb des familiären Horizonts weiterzubilden, reist der 30-Jährige mit einem Freund jedes Jahr für ein bis zwei Wochen in eine andere Weinregion, besucht Winzer, schaut sich Reben an und probiert sich durch die Erzeugnisse.