«Ich versuche, mich in die Hefe hineinzuversetzen.»
Der Weidenkorb ist gepackt, Samuel Aeschlimann bereit aufzubrechen. Mehr als eine Pinzette, eine Schere, ein Feuerzeug und ein paar Teströhrchen braucht er nicht für die Jagd nach wilden Hefen. Die Luft ist erfüllt von ihren Sporen, sie zu sammeln keine grosse Sache. Ihre Reinzucht gestaltet sich da schon schwieriger. Jedenfalls gehört Aeschlimann zu den wenigen Brauern weltweit, welche sich ihr mit wissenschaftlichem Eifer widmen. Aus seiner Arbeit macht er indes kein Geheimnis, im Gegenteil: Er stellt Ergebnisse, Erfahrungen und Rezepte ins Netz, erklärt seine Methoden und gibt ausführlich Antwort auf Fragen. Seit fünf Jahren betreibt er den Eureka Brewing Blog, der in der internationalen Craft-Beer-Szene ein starkes Echo fand. Zahlreiche Brauereien, vornehmlich aus Nordamerika und Europa, bestellen Hefen bei ihm. In seiner Wohnung bunkert der Zellbiologe ein paar 100 Stämme. Für rund 100 Milliarden Zellen, das reicht für 20 Liter Bier, verlangt er zehn Franken. Dabei hat er festgestellt: «Je wilder die Hefen, desto stärker die Nachfrage.»
Aeschlimann könnte es sich leicht machen; einen Bottich mit Bierwürze auf den Vorplatz seiner Blackwell Brewery in Burgdorf stellen und warten, bis Wind und Hefe das ihre tun. Jahrhundertelang brauten die Menschen so ihr Bier. Unwissend, dass Hefen existieren. Allerdings hat die Methode einen erheblichen Mangel: Es lässt sich kaum kontrollieren, welche Mikroben der Wind in die Würze weht. Gerade im Sommer, wenn viele Schimmelpilze durch die Luft schwirren, sind Fehlgärungen eine häufige Folge. Für Aeschlimann kommt die sogenannte Spontangärung deshalb genauso wenig in Frage wie die Gärung allein mit portionierter Kulturhefe aus dem Päckli. Um Qualität zu gewährleisten, ohne auf die aromatische Vielfalt der wilden Hefen verzichten zu müssen, entschied er sich für einen dritten, ungleich komplizierteren Weg.
Dieser führt den 30-Jährigen eine dicht bewachsene Dammböschung hinter der Brauerei hoch, über einen niedergetrampelten Maschendrahtzaun. Den Weidenkorb fest im Griff, schlendert Aeschlimann einen von Beerensträuchern gesäumten Kiesweg entlang. Sein Blick wandert von einer Seite auf die andere, bis er an einer vielversprechenden Brombeere hängen bleibt – milchig-matt, mit einem pudrigen Belag. «Das könnte Hefe sein», murmelt er konzentriert und geht in Kauerstellung. Mit der gründlich abgeflammten Pinzette zieht er an der Beere, bis sie nachgibt, lässt sie in ein mit Malzlösung gefülltes Teströhrchen fallen, schraubt den Deckel zu und geht weiter. Ob die Probe überhaupt Hefen enthält und ob diese zum Brauen taugen, wird sich erst in vier bis sechs Wochen beim Sensorik-Test zeigen. Wahrscheinlich ist es nicht: Von 100 Proben seien jeweils nur zwei bis drei richtig gut, sagt Aeschlimann. Hefejagden seien denn auch eine intuitive Sache, sichtbare Hinweise wie die Pulverschicht auf der Brombeere eine Ausnahme und potenziell irreführend: «Ich versuche, mich in die Hefe hineinzuversetzen.»
Wem es schwerfällt, sich ins hypothetische Hirn einer Hefe hineinzudenken, der kann alternativ den Bienen folgen. Diese haben ähnliche Vorlieben: Wärme, Feuchtigkeit und bequemes Essen wie Einfach- oder Doppelzucker. An der Oberfläche von Beeren, Blüten und Co. tummeln sich die Einzeller in grosser Zahl. Aeschlimann, der werktags als Senior Scientist in einem Basler Pharmakonzern arbeitet, sucht auf seinen Streifzügen durchs Emmental gezielt nach Hefen, die typisch sind fürs Terroir und neue Aromen in die Flasche bringen. Auf den Geschmack der Wild- und Sauerbiere kamen er und sein jüngerer Bruder Tobias Aeschlimann 2012, als sie die erste Berliner Weisse brauten. Spätestens seit letztem Herbst ist Hefe die Hauptzutat ihrer Blackwell-Biere. Den Entschluss, ganz auf Native Wild Ales zu setzen, trafen sie nach dem Umzug auf das Areal der stillgelegten Verpackungsfabrik Stannioli in Burgdorf. Zu diesem Zeitpunkt blickten sie bereits auf zehn Jahre Brauerfahrung zurück: Den ersten Sud hatten sie 2006 im Elternhaus gekocht, später quartierten sie sich in der Brauerei von Freunden ein. Die Gründung der Blackwell Brewery GmbH folgte 2015, ein Jahr später der Aufbau der eigenen Brauerei.