07.09.2017 Salz & Pfeffer 5/2017

Von der Spore zum Stamm

Text: Delia Bachmann – Fotos: Jürg Waldmeier
Samuel Aeschlimann sammelt wilde Hefen und züchtet sie rein. Mit seinem Wissen hat er sich in der internationalen Craft-Beer-Szene einen Namen gemacht.
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«Ich versuche, mich in die Hefe hineinzuversetzen.»
Der Weidenkorb ist gepackt, Samuel Aeschlimann bereit aufzubrechen. Mehr als eine Pinzette, eine Schere, ein Feuerzeug und ein paar Teströhrchen braucht er nicht für die Jagd nach wilden Hefen. Die Luft ist erfüllt von ihren Sporen, sie zu sammeln keine grosse Sache. Ihre Reinzucht gestaltet sich da schon schwieriger. Jedenfalls gehört Aeschlimann zu den wenigen Brauern weltweit, welche sich ihr mit wissenschaftlichem Eifer widmen. Aus seiner Arbeit macht er indes kein Geheimnis, im Gegenteil: Er stellt Ergebnisse, Erfahrungen und Rezepte ins Netz, erklärt seine Methoden und gibt ausführlich Antwort auf Fragen. Seit fünf Jahren betreibt er den Eureka Brewing Blog, der in der internationalen Craft-Beer-Szene ein starkes Echo fand. Zahlreiche Brauereien, vornehmlich aus Nordamerika und Europa, bestellen Hefen bei ihm. In seiner Wohnung bunkert der Zellbiologe ein paar 100 Stämme. Für rund 100 Milliarden Zellen, das reicht für 20 Liter Bier, verlangt er zehn Franken. Dabei hat er festgestellt: «Je wilder die Hefen, desto stärker die Nachfrage.»

Aeschlimann könnte es sich leicht machen; einen Bottich mit Bierwürze auf den Vorplatz seiner Blackwell Brewery in Burgdorf stellen und warten, bis Wind und Hefe das ihre tun. Jahrhundertelang brauten die Menschen so ihr Bier. Unwissend, dass Hefen existieren. Allerdings hat die Methode einen erheblichen Mangel: Es lässt sich kaum kontrollieren, welche Mikroben der Wind in die Würze weht. Gerade im Sommer, wenn viele Schimmelpilze durch die Luft schwirren, sind Fehlgärungen eine häufige Folge. Für Aeschlimann kommt die sogenannte Spontangärung deshalb genauso wenig in Frage wie die Gärung allein mit portionierter Kulturhefe aus dem Päckli. Um Qualität zu gewährleisten, ohne auf die aromatische Vielfalt der wilden Hefen verzichten zu müssen, entschied er sich für einen dritten, ungleich komplizierteren Weg.

Dieser führt den 30-Jährigen eine dicht bewachsene Dammböschung hinter der Brauerei hoch, über einen niedergetrampelten Maschendrahtzaun. Den Weidenkorb fest im Griff, schlendert Aeschlimann einen von Beerensträuchern gesäumten Kiesweg entlang. Sein Blick wandert von einer Seite auf die andere, bis er an einer vielversprechenden Brombeere hängen bleibt – milchig-matt, mit einem pudrigen Belag. «Das könnte Hefe sein», murmelt er konzentriert und geht in Kauerstellung. Mit der gründlich abgeflammten Pinzette zieht er an der Beere, bis sie nachgibt, lässt sie in ein mit Malzlösung gefülltes Teströhrchen fallen, schraubt den Deckel zu und geht weiter. Ob die Probe überhaupt Hefen enthält und ob diese zum Brauen taugen, wird sich erst in vier bis sechs Wochen beim Sensorik-Test zeigen. Wahrscheinlich ist es nicht: Von 100 Proben seien jeweils nur zwei bis drei richtig gut, sagt Aeschlimann. Hefejagden seien denn auch eine intuitive Sache, sichtbare Hinweise wie die Pulverschicht auf der Brombeere eine Ausnahme und potenziell irreführend: «Ich versuche, mich in die Hefe hineinzuversetzen.»

Wem es schwerfällt, sich ins hypothetische Hirn einer Hefe hineinzudenken, der kann alternativ den Bienen folgen. Diese haben ähnliche Vorlieben: Wärme, Feuchtigkeit und bequemes Essen wie Einfach- oder Doppelzucker. An der Oberfläche von Beeren, Blüten und Co. tummeln sich die Einzeller in grosser Zahl. Aeschlimann, der werktags als Senior Scientist in einem Basler Pharmakonzern arbeitet, sucht auf seinen Streifzügen durchs Emmental gezielt nach Hefen, die typisch sind fürs Terroir und neue Aromen in die Flasche bringen. Auf den Geschmack der Wild- und Sauerbiere kamen er und sein jüngerer Bruder Tobias Aeschlimann 2012, als sie die erste Berliner Weisse brauten. Spätestens seit letztem Herbst ist Hefe die Hauptzutat ihrer Blackwell-­Biere. Den Entschluss, ganz auf Native Wild Ales zu setzen, trafen sie nach dem Umzug auf das Areal der stillgelegten Verpackungsfabrik Stannioli in Burgdorf. Zu diesem Zeitpunkt blickten sie bereits auf zehn Jahre Brauerfahrung zurück: Den ersten Sud hatten sie 2006 im Elternhaus gekocht, später quartierten sie sich in der Brauerei von Freunden ein. Die Gründung der Blackwell Brewery GmbH folgte 2015, ein Jahr später der Aufbau der eigenen Brauerei.

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Die Hefezucht erfordert viel Geduld: Noch kann Samuel Aeschlimann keine Kolonien auf der Petrischale erkennen.
Die Hefezucht erfordert viel Geduld: Noch kann Samuel Aeschlimann keine Kolonien auf der Petrischale erkennen.
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Tobias und Samuel Aeschlimann degustieren die Vergärungsproben.
Tobias und Samuel Aeschlimann degustieren die Vergärungsproben.
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«Für uns ist das Bier nur das Futter für die Hefe.»
Dorthin kehrt Samuel Aeschlimann nun zurück, um herauszufinden, was in den Röhrchen steckt. Der Warenlift kommt im zweiten Stock zum Stillstand; durch die erst spaltbreit geöffnete Tür strömt ein säuerlich-fruchtiger Duft. Tobias Aeschli­mann, eben noch mit dem Befüllen der Barriquefässer beschäftigt, hetzt durch die Brauerei. Eines der Weinfässer aus Spanien leckt. Während er mit Wasserdampf versucht, das Gröbste abzudichten, geht es drüben im kleinen Labor gemächlicher zu und her. Samuel Aeschlimann beschriftet die gesammelten Röhrchen und stellt sie zu den anderen in eine Kartonschachtel. Dann heisst es warten.

Nach ein paar Tagen haben sich die Mikroben vermehrt, und der komplizierte Teil beginnt. Aeschlimann tunkt einen Stab, an dessen Ende sich eine kleine Drahtschlaufe befindet, in das Teströhrchen. Wie bei einem Seifenblasenring spannt sich ein dünner Flüssigkeitsfilm auf. Er zeichnet mehrere Zickzacklinien auf den Nähr­boden einer Petrischale, wodurch die Hefezellen voneinander isoliert werden. Pro Probe fertigt er drei Schalen an. Sie alle enthalten Trockenmalz als Nährmedium, Agar-Agar als Verdickungsmittel und Antibiotika. Da Kulturhefen kein Kupfer vertragen, ist eine der Schalen zusätzlich mit dem Schwermetall präpariert. Eine andere enthält eine Substanz, die die Farbe wechselt, wenn eine Hefe Säure produziert – eine typische Eigenschaft von wilden Stämmen. All diese Massnahmen dienen der näheren Bestimmung der Beute.

Nach sieben Tagen werden erste Punkte auf den Schalen sichtbar. Ein Punkt entspricht einer Kolonie und ist im Idealfall aus einer einzigen, tausend- bis millionenfach geklonten Hefezelle gewachsen. Farbe, Form und Grösse der Punkte zeigen an, um welche Stämme es sich handeln könnte. Die wilden Bretts (Brettanomyces) etwa, für Blackwell-Biere die wichtigsten Hefen überhaupt, seien anders als Kulturhefen nicht rund, so Aeschlimann. Zudem wachsen sie langsamer. Trotzdem ist die Hefezucht keine exakte Wissenschaft. Viele Stämme sind noch unentdeckt, andere erst wenig erforscht. Und so spielt bei der Entscheidung für oder gegen eine bestimmte Kolonie auch das Bauchgefühl mit. Die auserwählte Reinkultur kommt in eine mit Malzlösung gefüllte Flasche. Die Kohlensäure, ein Nebenprodukt des Hefenwachstums, entweicht durch ein Ventil auf dem Deckel. Die sogenannte Vergärungsprobe bringt das Credo der beiden Blackwell-Brauer auf den Punkt: «Für uns ist das Bier nur das Futter für die Hefe.» Bis genug Hefe gewachsen, die Lösung vergoren und bereit zum Degustieren ist, vergehen nochmals zwei bis drei Wochen.

Die Ausbildung zum Biersommelier haben die Brüder nicht absolviert. Dennoch verbindet die beiden eine klare Vorstellung davon, welche Biere sie brauen wollen. Gewöhnlich haben sie ein bestimmtes Profil im Kopf, das sie mit Hilfe der Hefen zu rekonstruieren versuchen. Die Inspiration finden sie meist ausserhalb der Bierwelt, beim Essen und beim Wein. Ihre Hauskultur, die in fast jedes Bier kommt, umfasst aktuell sieben verschiedene Hefen. Manche davon aus der Natur, manche aus Bier- oder Weinflaschen isoliert: «Bei diesen Hefen geht es darum, den Spirit einer anderen Brauerei einzufangen», sagt Samuel Aeschlimann. Bei «historischen» Bieren aus Restbeständen schwingt zudem der Wunsch mit, alte Sorten am Leben zu erhalten. Beim letzten Schritt vor dem eigentlichen Brauprozess ist Vorsicht angezeigt: Bevor Samuel Aeschlimann seiner Hauskultur eine neue Hefe hinzufügt, erstellt er ein «Back-up» der ursprünglichen Mischung. Auf diese Weise müssen die Brüder, sollte ein Experiment misslingen, nicht von vorne anfangen.

www.blackwellbrewery.ch
www.eurekabrewing.wordpress.com

Die Hefe und das Bier
Hefen sind einzellige Pilze, die sich durch Zellteilung vermehren und aus den Backstuben, Brauereien und Brennereien nicht mehr wegzudenken sind. Beim Brauen wandeln die Hefen den Zucker der Maische in Alkohol und Kohlensäure um. Bei der Gärung entstehen auch die typischen Bieraromen. Die Wahl der Hefe bestimmt damit den Grossteil des Geschmacks eines Bieres. Brauer unterscheiden zwischen Kultur- und wilden Hefen, aber auch zwischen unter- und obergärigen Hefen. Untergärige Hefen werden bei Temperaturen von vier bis neun Grad Celsius aktiv, setzen sich am Boden des Gärbehälters ab und bringen vor allem Lagerbiere hervor. Obergärige Hefen schwimmen auf, benötigen Temperaturen von 15 bis 20 Grad Celsius und werden beispielsweise für Ales, Berliner Weisse oder Porters verwendet.

Beer & Kitchen Tasting Dinner
Am 2. September veranstaltet Molekularkoch Rolf Caviezel in der Station 1 in Grenchen ein Beer & Kitchen Tasting Dinner mit Platz für 25 Personen. Bier ist dabei nicht bloss Begleitung, sondern Bestandteil der fünf Gänge, welche die Köche Philippe Berthoud, Sascha Conrad, Corinne Messmer und Rolf Caviezel auf den Tisch zaubern. Was genau, ist noch unklar, aber: «Brot wird ein grosses Thema sein.» Es ist kein Zufall, dass Bier, darunter auch das Tannenbaum Effekt III der Blackwell Brewery, im Mittelpunkt des Events steht. Aktuell arbeitet Caviezel an seinem zweiten Buch zum Thema Bierpairing: «Wir schauen uns das Bier an und überlegen, was dazu passt», erklärt er. Kennen gelernt hat er Tobias Aeschlimann an einem Tasting in der Craft Gallery in Bern. Das Tannenbier hat ihn sofort fasziniert. Gebraut haben es die Aeschlimann-Brüder aus einem Rottännchen, das sie en bloc in den Braukessel gaben.