14.05.2019 Salz & Pfeffer 3/2019

Vorbild der Nation

Interview: Sarah Kohler – Fotos: Jürg Waldmeier
Andreas Caminada prägt junge Schweizer Köche wie kein Zweiter. Seiner Funktion ist sich der dienstälteste Drei-Sterne-Koch durchaus bewusst.
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«Meine Mitarbeiter sollen Schauenstein nicht als Blender verlassen, sondern mit viel Können und der gebotenen Bescheidenheit.»

Sagen Sie mal: Wer war für Ihre berufliche Laufbahn eine besonders prägende Figur?
Andreas Caminada:
Ein wichtiger Mensch ist sicher David Dustin, mein Gastvater in Vancouver, wo ich nach der Kochlehre einen Sprachaufenthalt absolvierte. Er ist gelernter Koch, arbeitete damals als Comestibleshändler, nahm mich auf seine Auslieferungstouren mit und verschaffte mir die Möglichkeit, an verschiedenen Orten reinzuschauen und mitzuarbeiten. David öffnete mir die Augen.

Wofür?
Er zeigte mir, was es auf der Welt alles gibt, die ganze kulinarische Vielfalt. Das ist auch der Gedanke hinter der Fundaziun Uccelin, die wir 2015 gegründet haben: Wir möchten, dass die jungen Koch- und Servicetalente in unserem Programm solche Mentoren bekommen, dass sie sich weiterbilden, Erfahrungen sammeln und ihren Horizont erweitern. Unsere Stipendiaten schauen fünf oder sechs Monate lang unbeschwert in verschiedene Betriebe rein. Wir haben die Kontakte und sorgen für die Finanzierung, um das zu ermöglichen.

Formt ein weiterer Horizont Ihrer Meinung nach denn bessere Köche oder Servicemitarbeiter?
Er macht aus ihnen auf jeden Fall offenere Persönlichkeiten, die dank des grösseren Spektrums vielleicht motivierter sind, kreativ zu werden. Und sie haben bessere Chancen auf dem Markt: Viele Stipendiaten kriegen nach unserem Programm ein Jobangebot – im Blue Hill bei Dan Barber in New York beispielsweise oder bei Esben Holmboe Bang im Maaemo in Oslo. Das sind Riesenchancen.

Was springt dabei für Sie raus?
Ich muss davon nicht profitieren. Die Uccelin-Stiftung sehe ich nicht nur als Engagement für die Talente, sondern für die ganze Branche. Wir wollen den Beruf des Kochs und die Arbeit im Service attraktiver machen, das Ansehen heben. Gerade Frontmitarbeiter sollen wieder stolz auf ihre Tätigkeit sein. Da wünschten wir uns übrigens noch mehr und bessere Bewerbungen. Man muss ja echt nicht viel machen, um dabei zu sein: Es reicht, uns zu zeigen, dass man motiviert und die richtige Person fürs Programm ist.

Haben Sie dafür ein Gespür entwickelt?
Nun ja: Fehlgriffe gibt es immer. Aber ich bin jetzt 15 Jahre im Schloss Schauenstein, und in dieser Zeit haben sehr viele Leute mit uns gearbeitet. Ich entschied stets aus dem Bauch heraus, manchmal vielleicht aus der Not – und bis auf wenige Ausnahmen kam es gut heraus. Ein- oder zweimal lief es nicht ganz reibungslos, aber die restlichen über 100 Mitarbeiter, die bislang hier waren, dürfen gern wiederkommen.

Wenn Sie einen Nachwuchskoch einstellen: Wie wählen Sie aus?
Ein Must ist die Leidenschaft. Die Leute müssen den Job wirklich machen wollen. Wichtig ist mir zudem, wo die Köche gearbeitet haben – und wie lange. Wenn sich einer bewirbt, der in den besten Häusern tätig war, jedoch überall nur sechs Monate, lasse ich ihn nicht kommen. Ich sage ihm aber auch, warum.

Nämlich?
Er soll erst eineinhalb Jahre irgendwo bleiben. Minimum. So ein Lebenslauf lässt vermuten, dass der Mensch aufgibt, sobald der Druck steigt. Und ich stelle keinen ein, der nach ein paar Monaten wieder geht. Ich suche Mitarbeiter, die nicht nur kochen, sondern sich beweisen und eine Zeitlang unsere Philosophie leben wollen. Ausdauer ist elementar. Im Gegenzug stehe ich hinter jedem, der hier zwei Jahre gearbeitet hat, zu 100 Prozent. In dieser Zeit haben wir jeden in unsere Kultur eingeführt – selbst einen, der anfangs eine grosse Klappe hatte. Meine Mitarbeiter sollen Schauenstein nicht als Blender verlassen, sondern mit viel Können und der gebotenen Bescheidenheit.

Bescheidenheit: Ist es das, was Sie den Leuten beibringen?
Ich versuche es zumindest. Und halt alles, was dazugehört: Seriosität, Fleiss, Ausdauer, Zuvorkommenheit. Anderen Menschen mit Respekt zu begegnen. Dass man auch den Vorgesetzten gegenüber einen gewissen Anstand an den Tag legt.

Wie hierarchisch sind Sie im Schloss Schauenstein organisiert?
Als ich anfing, waren wir zu viert, alles lief ganz familiär. Das blieb mit bis zu 15 Mitarbeitern so. Ich hatte den Überblick, ohne Souschef und Co. Aber nach sechs, sieben Jahren wünschte ich mir, dass einer etwas länger bleibt – also führte ich Posten ein,um eine Aufstiegsmöglichkeit zu bieten. Und jetzt? Ab einer gewissen Grösse braucht es Struktur. Im Schloss Schauenstein arbeiten derzeit 42 Angestellte, 14 davon in der Küche. Menschen, die führen können, sind da ein Muss.

Am längsten bei Ihnen in der Küche sind Ihre Spüler.
Ja, Kanagrathinam Prasanthan – von uns allen liebevoll Sandim genannt – feiert im November sein zehntes Jahr bei uns. Wahnsinn! Und Leonor De Oliveira Pereira Goncalves arbeitet, mit Unterbruch, seit rund zwölf Jahren für mich. Sie macht mittlerweile Frühstück, Oeufs Benedict oder so filigrane Geschichten wie Kartoffelgitter: Darin ist sie super. Sandim und Leonor sind grosse Stützen. Wissen Sie: Ich erinnere mich gut an die Zeiten, als wir gern jemanden eingestellt hätten, aber niemanden fanden.

Der Ihren Ansprüchen genügte?
Nein, der sich meldete. 2003 lancierten wir mit dem Schloss Schauenstein ein neues Projekt, das erst mal keinen interessierte. Wir nahmen, was wir kriegen konnten, und mein vorheriger Arbeitgeber Hans-Peter Hussong vermittelte mir Leute, die sich ursprünglich bei ihm beworben hatten. Ich erkannte früh: Je mehr ich meinen Mitarbeitern beibringe, umso mehr Zeit habe ich für andere Sachen.

Was kann man einem Koch denn beibringen – und was nicht?
Alles. Respekt und Bescheidenheit, Selbstvertrauen und Mut. Es geht darum, die Stärken – und die Schwächen – eines Mitarbeiters zu erkennen, ihn entsprechend einzusetzen und zu fördern. Ich finde es schön, zu sehen, wie die Leute wachsen, ihren Weg gehen.

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Andreas Caminada: der Wegweiser?
Ich bin abhängig von meinen Mitarbeitern und sehe das pragmatisch: Ich brauche Leute, die mir helfen, und ich habe ein Interesse daran, dass sie eine Weile bei mir bleiben. Gleichzeitig erwarte ich viel.

Und wenn es mal nicht läuft: Liegt es Ihnen, Klartext zu reden?
Das ist nicht immer einfach, und manchmal habe ich dafür keine Energie. Ich behaupte auch nicht, ich sei ein super Ausbilder oder ein hervorragender Chef. Da müssen Sie die anderen fragen. Aber ich versuche es hinzukriegen, dass sich meine Mitarbeiter wohlfühlen und entfalten können. Schliesslich war mein Ziel von Anfang an, nicht nur ein Essen zu kreieren, sondern ein Gesamterlebnis zu bieten – und dazu trägt jeder einzelne Mitarbeiter bei.

Wie gehen Sie mit Fehlern um?
Die passieren. Wenn einer was falsch macht und dazu steht, ist das kein Ding. Zudem haben wir extra Mitarbeiter, die die Verantwortung tragen – und allfällige Fehler frühzeitig erkennen sollen. Kontrolle ist gut. Und ein Kontrollfreak zu sein, ist okay.

Sind Sie einer?
Nein.

Sicher?
Die Leute behaupten es, aber ich finde, ich bin keiner. Ich weiss halt, wie ich es haben möchte, beim Kochen, aber auch drumherum. Wenn alles stimmt, kontrolliere ich keinem hinterher. Und wenn es mal nicht passt, schreibe ich das in den Whatsapp-Chat aller Angestellten von Schloss Schauenstein. Dann ist der Fall klar.

Und wie viel Freiheit geniessen die Küchenchefs Ihrer Zweitrestaurants?
Das Igniv ist eine tolle Möglichkeit, gute Leute nachzuziehen. Silvio Germann in Bad Ragaz und Marcel Skibba in St. Moritz machen beide einen hervorragenden Job. Die Zusammenarbeit mit ihnen ist eine dynamische Geschichte. Im Prinzip stammt die Basis von mir, aber Silvio und Marcel bringen sich ein, wir entwickeln die Gerichte gemeinsam weiter. Die beiden wissen ja genau, was mir wichtig ist, welche Philosophie dahintersteckt. Sie kennen mich – und ich kenne sie.

Inwiefern können die beiden eine eigene Handschrift entwickeln?
Das können sie im Igniv nicht. Das Konzept steht, Parameter und Setting sind definiert. Diesen abgesteckten Rahmen allerdings füllen die Küchenchefs individuell aus. Für eine eigene Handschrift indes müssten sie raus, im Igniv gehts darum, etwasGemeinsames umzusetzen. Ich lasse durchaus Freiheiten, aber die Grundsätze sind klar: Es gibt Dinge, die müssen sich zwingend vom Schauenstein unterscheiden, und es gibt Sachen, die möchte ich gleich haben. Es ist wie mit einem Kind: Jedes hat einen eigenen Charakter, und das ist gut so. Aber es stammt aus einer Familie – und auch das sollte man spüren.

Sie scheinen eine klare Vision zu haben.
Ich habe einfach das Gefühl, dass wir was machen sollten, was sonst keiner tut. Das war immer so: Wenn die anderen rote Hosen trugen, zog ich blaue an. Mich reizt der unbekannte Ansatz. Copy paste? Interessiert mich nicht. Wir sind im Schloss Schauenstein nun im 16. Jahr, und ich finde, dass wir in unserer Leaderposition durchaus Verantwortung tragen.

Wie gehen Sie damit um?
Im Bewusstsein, dass gerade Nachwuchsköche zu uns aufschauen. Das heisst: Wir müssen als Vorbild agieren, vorangehen und Konzepte wagen, die es noch nicht gibt. Da versuche ich, auch andere Pioniere an Bord zu holen.

Wie das?
Wir gingen mit der Fundaziun Uccelin kürzlich einen Schritt weiter, indem wir Sergio Herman als Mentor verpflichteten. Ziel ist es, dass sich verschiedene bedeutende Köche mit der Stiftung identifizieren und die Idee in die Welt tragen. Sergio gibt der Stiftung nun in den Beneluxländern ein Gesicht.

Mit Ihrem internationalen Netzwerk verfügen Sie über ein immenses Kapital. Inwiefern profitieren Ihre Mitarbeiter davon?
Wenn einer einen Job sucht oder zu einem bestimmten Koch wechseln will, können wir das sicher organisieren. Und eben: Wir stellen unsere Kontakte der Stiftung zur Verfügung. Wir wollen der Branche etwas zurückgeben; sie hat es nötig.

Wie steht es Ihrer Meinung nach denn um die Schweizer Gastronomie?
Der Statistik zum Trotz: In meinem Umfeld gibt es viele gute Leute und motivierte Nachwuchstalente. Aber ich sehe, dass es schwierig ist, sie zu finden – vor allem im Service. Die fehlende Anerkennung der Branche ist das primäre Problem. Dem wirken wir mit den Uccelin-Stipendien entgegen. Wir zeigen Servicemitarbeitern, dass sie sich weiterbilden, ihren Beruf unterschiedlich machen, sich mit diversen Themen beschäftigen können, mit Kaffee etwa, mit Cocktails oder der nichtalkoholischen Getränkebegleitung, die immer mehr zum Thema wird. Zudem bilden wir im Schloss Schauenstein diese Vielfalt ab – indem wir beispielsweise selber Brot backen oder Kaffee rösten. Das ist alles andere als langweilig.

Spannend bleibt es bei Ihnen ohnehin. Mit dem Igniv-Konzept im Gepäck sind Sie Ende 2018 durch Bangkok, Kuala Lumpur sowie Singapur gereist.
Unsere Asien-Tour war ein voller Erfolg, und wir stiessen auf Interesse. Bis es so weit ist, gibt es aber noch viel zu tun. Und ich bräuchte auf jeden Fall wieder einen Mitarbeiter, den ich im Schloss Schauenstein vorbereiten kann; jemanden, dem ich vertraue, der mich kennt und meine Philosophie verinnerlicht hat, um sie in die Welt hinauszutragen.

Derart geprägte Köche gibt es inzwischen einige. Sind Sie eigentlich stolz darauf?
Wenn ich sehe, wo meine früheren Mitarbeiter stehen? Sehr sogar. Wobei: Jeder von ihnen ist dafür selbst verantwortlich. Wir versuchen bloss, jedem, der bei uns arbeitet, etwas mit auf den Weg zu geben: Ob das nun etwas Kochtechnisches oder etwas Zwischenmenschliches ist. Am Ende nimmt jeder mit, was für ihn wichtig ist.

Andreas Caminada (41) braucht man beim besten Willen nicht vorzustellen: Der wohl erfolgreichste Drei-Sterne-Koch der Schweiz ist mit seinem Schloss Schauenstein im bündnerischen Fürstenau sowie den beiden Igniv-Dependancen – einmal in Bad Ragaz und einmal in St. Moritz – weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt. Mit der Fundaziun Uccelin fördert der Spitzenmann Nachwuchsköche und junge Servicetalente.
www.schauenstein.ch, www.igniv.com, www.uccelin.com, www.andreascaminada.com