08.05.2018 Salz & Pfeffer 3/2018

«Weg mit den Labels»

Interview: Tobias Hüberli – Fotos: Njazi Nivokazi
Wenn Kurt Brunner Fernsehspots mit Biobauern sieht, wirds ihm fast anders. Die Grossverteiler würden seinen Stand in ein Dienstleister- und Werbedasein zwängen, sagt der Gründer des Pionierprojekts Huhn mit Bruder. Die Schweiz sieht er als Modellfall für einen anderen Weg in der Landwirtschaft.
Kurt Brunner mit Zuchthahn Tobias, einem Exemplar der Rasse Schwarzer Australorp
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«Grenzen zwischen der konventionellen und der Biolegehennen-Haltung verwischen bezüglich Futter und Zucht zunehmend.»
Wie kamen Sie zum Huhn?
Kurt Brunner:
Den ersten Kontakt hatte ich als Kind; mein Onkel führte in den Siebzigerjahren eine Anlage mit Batteriehennen, so eine richtig grusige. Da konnte ich mir jeweils etwas dazuverdienen. Als wir auf den Hof Looren kamen, existierte der Hühnerstall bereits. Es war ein mit der Bioknospe zertifizierter Produktionsbetrieb der Firma Hosberg. Dessen Patron, Alfred Reinhard, war ein Pionier in der Bioeier-Produktion – und Mitglied der lokalen Bioeier-Mafia. Ich verstand mich zwar gut mit ihm, merkte aber schnell, dass wir auf die Dauer nicht zusammen geschäften können.

Wieso?
Reinhard sagte damals schon, dass das Eis dünn werde. Damit meinte er einerseits das grosse Wachstum der Bioeier-Branche und anderseits die in der Werbung verschleierte Tatsache, dass die Grenzen zwischen der konventionellen und der Biolegehennen-Haltung bezüglich Futter und Zucht zunehmend verwischen. Er behielt Recht. Inzwischen haben die Grossverteiler den Anteil von Bioeiern auf einen Fünftel der schweizerischen Eierproduktion hochgefahren, und das wird sich noch steigern. Hosberg gehört heute zu einem Teil der Migros. 2005 stellten wir unseren Hühnerbetrieb auf Demeter um.

Wie macht man das?
Demeter hatte damals keine richtigen Regeln, was grössere Hühnerhaltungen anbelangt. Wir bauten grösser Ställe und gaben den Tieren einfach mal Futter aus Demeter-Getreide, woraufhin sie Mangelerscheinungen zeigten, schlechtes Gefieder bekamen und zum Teil sogar starben. Wir realisierten, dass diese speziell für die Eierproduktion gezüchteten Hybridhühner ohne Hochleistungsfutter nicht überleben können. Heute füttern wir unsere Rassenhühner mit einem Gemisch aus Getreidenebenprodukten und Molke von der Sennerei Bachtel. Ganz ohne Soja kommen wir aber leider auch nicht aus.

Sie kritisieren gern und viel, auch das Produktionslabel Demeter, unter dessen Dach Sie produzieren.
Wir sind keine Anthroposophen. Ich stehe solchen religiös angehauchten Sachen heute sehr kritisch gegenüber. Ich glaube nicht, dass die Anthroposophie eine ausreichende Grundlage ist für die biologisch-dynamische Landwirtschaft. Unter dieser verstehe ich das Streben nach Wesensgerechtigkeit. Es geht ums Tierwohl, um die Natur, aber auch um das Wohl des Bauern, um die Zusammenhänge mit der Industrie – ums Ganze. Demeter kann in meinen Augen letztlich nicht mit der Industrie zusammenarbeiten, aber genau das passiert zurzeit.

Sie sagen, das Demeterlabel habe im Grossverteiler nichts verloren.
Stellt man damit zertifizierte Nahrungsmittel in den Coop oder in die Migros, zwingt man den Bauern in die Massentierhaltung, dann muss alles grösser werden. Heute können Biohühner-Betriebe mit 2000 Tieren auf Demeter umgestellt werden. Mit einem Futter, das in meinen Augen grenzlegal ist, weil man nämlich wie bei der Biohaltung einen Vitaminprämix dazugibt, damit die Hochleistungstiere überhaupt überleben. Und dass die Demeterhühner mehr Platz haben müssen, wurde letztes Jahr gleich auch noch abgeschafft. Heute reicht der Haltungsstandard des Bio-Gütesiegels aus. Das war die Forderung der Grossverteiler, als sie letztes Jahr mit den Kommissionen von Demeter ein Päckli schnürten. Ich kämpfe noch dagegen an, aber es ist wahrscheinlich aussichtslos.

Warum gründeten Sie vor zehn Jahren das Pionierprojekt Huhn mit Bruder?
Mit gut 500 Tieren war ich über lange Zeit einer der grössten Demeter-Hühnerhalter der Schweiz. Ich begriff es als meine Verantwortung, auch den Bruder der Henne zu verwerten. Es steckte keine kapitalistische Logik dahinter, wir versuchten, eine echte Alternative zu entwickeln. Es war ein Selbstregulierungsauftrag, wenn Sie so wollen. Ich brauchte dafür zehn Jahre, dann kamen Demeter, Coop und Migros.

Und kopierten das Ganze?
Vor vier Jahren wollte Demeter Huhn mit Bruder übernehmen. Die Pläne des Labels gingen mir aber nicht weit genug, also lehnte ich ab. Daraufhin gründete Demeter Hahn im Glück, Hosberg kam mit Hahn und Henne, und irgendwo gibt es noch etwas, das Ei und Bruder heisst. Kurz, es entstand ein Wildwuchs von Labels, nur – und davor graut es mir – aus Marketingzwecken. Da geht es nicht um echte, nachhaltige Bemühungen.

Welche Strategie verfolgen Sie als Bauer in dieser Marktsituation?
Für mich ist die Zusammenarbeit mit der Nahrungsmittelindustrie ein Irrweg, der die Bauern zu einem Dienstleisterdasein versklavt. Ich versuche, in einzelnen Teilen das Modell einer partizipativen Landwirtschaft zu entwickeln. Nachhaltig ist für mich nur, wenn ich direkt mit dem Konsumenten arbeiten kann. Mit Leuten, die eben nicht auf farmy.ch, le shop oder coop@home irgendwelchen Schrott bestellen, dafür aber bereit sind, einen Teil ihrer kostbaren Freizeit in eine Beziehung mit uns zu investieren.

Auch Huhn mit Bruder kann man online bestellen.
Stimmt, wir bauen einen Abodienst auf, und es treffen auch laufend Bestellungen ein. Aber eigentlich wünsche ich mir, dass die Leute zuerst einmal bei uns vorbeikommen, und dann reden wir miteinander. So könnte ich erklären, wo das Problem liegt.

Erklären Sie es mir.
Ich und fünf Kollegen, alles mittelgrosse Bauern, könnten zusammen halb Hinwil (zirka 5000 Personen, Anmerkung der Redaktion) mit 75 Prozent aller Nahrungsmittel versorgen. Und es würde dabei niemandem schlecht gehen. Die Leute müssten auch nicht mehr bezahlen, aber sie müssten eine Beziehung zu uns aufbauen und so wieder ein Verständnis für die Bauern entwickeln. Im Gegenzug würden wir die Konsumenten besser verstehen. Wir reden nicht mehr miteinander. In meiner Vision gründen 50 oder 100 Familien eine Käserei und engagieren sich so verbindlich, dass sie die Milchprodukte vor Ort beziehen. Wir brauchen weder Coop noch Migros oder Aldi, die uns sagen, was die Nahrung von morgen ist.

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Am Gastroevent Hochgenuss hielten Sie einen Vortrag. Wie wichtig ist für Sie der Bezug zu den Köchen?
Vor 20 Jahren glaubte ich nicht mehr an die Wirte. Damals erlebte ich die Köche, wie sie im Cash + Carry möglichst billig einkauften und versuchten, bei meinem Mostbröckli vom Grauvieh den Preis zu drücken. Das habe ich heute nicht mehr. Mit Tanja Büsser vom Schäfli in Uznach arbeite ich zum Beispiel sehr gut zusammen. Auch mit Markus Burkhard vom Restaurant Jakob in Rapperswil oder mit Marius Frehner vom Gamper in Zürch hat sich eine Partnerschaft auf Augenhöhe entwickelt.

Mit Ihrer Aussage, ein Ei müsse fünf Franken kosten, sorgten Sie letztes Jahr für viel Aufruhr.
Ich wollte damit eigentlich nur ausdrücken, dass ein Ei an sich etwas fast Unbezahlbares ist. Fünf Franken erschien mir damals als ein absurd hoher Preis. Aber ich habe mich getäuscht. Es gibt tatsächlich Leute, die sogar scharf darauf sind, fünf Franken für ein Ei zu bezahlen. 70 Rappen für ein Bioei sind sicher zu wenig. Das Problem ist, dass man der Situation nicht gerecht wird, indem man einfach den Preis verändert.

Wie meinen Sie das?
Früher war ein Produktionslabel ein Garant dafür, wie etwas hergestellt wird. Das ist es heute indirekt immer noch, aber hauptsächlich ist ein Label ein Marketinginstrument, ein Werbeargument mit einem variablen Preis.

Und ein Versprechen an den Konsumenten.
Sie finden immer jemanden, der unter dem gleichen Label einen günstigeren Preis macht. Und – was noch schlimmer ist – heute verhandeln die Grossverteiler zusammen mit den Labelverantwortlichen zum Beispiel von Demeter Schweiz oder Biosuisse die Bedingungen, was unter dem Label erlaubt sein soll und was nicht. Früher stand eine pionierhafte Überzeugung der Produzenten hinter einem Label. Darum sage ich: Weg mit den Labels, das bringt nichts mehr. Das wird immer schlimmer.

Schmeckt Ihr Bruder-Hahn eigentlich anders als das Poulet?
Keine Ahnung, ich esse selbst kein Fleisch. Nicht aus Überzeugung, ich habe es einfach nicht gern.

Also kein Veganer?
Nein, das finde ich wiederum lächerlich. Ich verstehe zwar sehr gut, wenn sich jemand vom Fleischkonsum abwendet, hinsichtlich der industriellen Produktion. Weniger verstehe ich die künstlichen Alternativen der Veganer wie Wurstersatz und dergleichen. Es ist einfach zu sagen: Fleisch ist schlecht. Dabei ist Soja eine Katastrophe für sich.

Gerade ohne Soja kommt die Hühnerzucht nicht aus.
Es ist für mich kein Zufall, dass die Produktion von Biosoja vor allem in relativ korrupten Ländern erstaunlich gut funktioniert. Das ist nicht despektierlich gemeint, aber in solchen Ländern geht das halt etwas einfacher. Vieles kommt aus Brasilien, in Europa aus Rumänien oder Italien. So soll sämtlicher Demetersoja, der in die Schweiz importiert wird, von einem einzigen Bauern aus Italien stammen. Das kann ich kaum glauben, der müsste ja Hunderte von Hektaren bewirtschaften.

Wie sehen Sie die Zukunft der Schweizer Bauern?
Ich weiss, dass Nahrungsmittel heute finanziell keine Rolle mehr spielen. Aber es lohnt sich – auch für kommende Generationen – für die Zukunft des Essens, die Nahrungsmittelsouveränität, zu kämpfen. Das kann man doch nicht einfach der Industrie überlassen. Denn die funktioniert einfach nach ihrer eigenen Logik, da kommt am Ende alles gleich raus.

Kurt Brunner (53) wuchs im Kanton Aargau und später in Luzern in einer Bauernfamilie auf. Eigentlich wollte er gar nicht Bauer werden, entschied sich dann aber, nachdem er das Gymnasium abgebrochen hatte, als eine Art Notlösung für die landwirtschaftliche Lehre. Nach der Matura 1986 in Zofingen absolvierte er ab 1987 an der ETH Zürich das damals neue Studium für Umweltnaturwissenschaften. Seinen ersten Bauernhof bewirtschaftete Brunner in Menzberg im luzernischen Napfgebiet. Vor 14 Jahren zog er zusammen mit seiner Frau Annina und den drei Kindern ins Zürcher Oberland nach Wernetshausen, wo sie als neue Pächterfamilie den seit fast 60 Jahren biologisch bewirtschafteten Hof Looren übernahmen und seither nach biologisch-dynamischen Richtlinien (Demeter) führen. Auf dem gut 40 Hektaren umfassenden Hof hält die Familie Brunner-Felix zurzeit 30 Milchkühe, Rinder, etwa zehn Mutterkühe der Rasse Rätisches Grauvieh, zwei Mutterschweine, zirka 20 Schafe und an die 1000 Hühner. Davon sind rund ein Drittel Rasse-, der Rest Hybridhühner. Vor zehn Jahren gründeten Annina und Kurt Brunner das Pionierprojekt Huhn mit Bruder, mit dem Ziel, den unrentablen Bruder der Legehenne, der als Abfallprodukt gilt und in der Regel vergast oder geschreddert wird, ebenfalls aufzuziehen und sinnvoll zu verwerten.
www.looren.chwww.huhnmitbruder.ch

Hybrid- versus Rassehühner
Unter einem Hybridhuhn versteht man eine durch Inzuchtlinien gekreuzte Rasse. Dank des sogenannten Heterosis-Effekts sind solche Kreuzungen bezüglich der gewünschten Zuchteigenschaften – zum Beispiel Legeleistung – besonders einheitlich und effektiv. Die Hybridzucht geht heute durch Verwendung von genanalytischen Methoden (genomische Selektion) an die Grenzen der biologischen Möglichkeiten von Nutzhühnern. Nebeneffekt der Zuchtindustrie ist die genetische Sackgasse, das heisst, die Weiterzucht mit Hybriden ist unmöglich, Tiere müssen immer wieder eingekauft werden. Hybridhühner leben in der Regel ein gutes Jahr und legen zirka 300 Eier. Ohne hochwertiges Futtermittel und Zusatzstoffe sind derartige Spitzenleistungen nicht erreichbar. Rassenhühner sind weniger produktiv (zirka 150 bis 180 Eier pro Jahr), werden dafür aber älter (zwei bis drei Jahre) und können mit weniger intensiven Futtermitteln ernährt werden. Zudem besitzen Rassenhühner eine von jedermann reproduzierbare Genetik.