11.10.2022 Salz & Pfeffer 5/2022

Zu allem bereit

Interview: Tobias Hüberli – Fotos: Njazi Nivokazi
Bis zum Ausbruch des Krieges führte Kseniia Amber eines der interessantesten Restaurants von Odessa. Nach einer langen Reise durch Europa hat die ambitionierte Köchin im beschaulichen Château-d’Oex eine neue Wirkungsstätte gefunden.
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«Alle applaudierten, obwohl ich bis heute nicht weiss, warum.»

Wieso sind Sie Köchin geworden?
Kseniia Amber: Das war kein bewusster Entscheid, sondern vielmehr ein Zufall. Eigentlich wollte ich Keramik-Künstlerin werden. Einmal besuchten wir Verwandte in den USA. Ich war schrecklich gelangweilt. Um mich aufzumuntern, schickte mich meine Tante in einen Amateur-Kochkurs, organisiert vom Culinary Institute of America. Dort fragten sie mich, wo ich denn so kochen gelernt hätte. Dabei machte ich nur, was mir meine Grossmütter beigebracht hatten. Der Kursleiter empfahl mir daraufhin, eine professionelle Laufbahn in Betracht zu ziehen.

Und das taten Sie?
Genau. Und meine ganze Familie war darüber sehr erleichtert. Ich befand mich damals in einer ziemlich experimentellen Phase, hörte Heavy-Metal-Musik und war ständig inspiriert von irgendetwas. Ich schloss die Kunstschule noch ab und besuchte anschliessend für zwei Jahre das Culinary Institut of America. 

Wie wars?
Letztlich realisierte ich schnell, dass ich keine Ahnung vom Kochen hatte. Die Ausbildner waren allesamt Franzosen, die ständig herumfluchten. Die Finger tun mir nur schon weh, wenn ich daran zurückdenke. Aber ich biss mich durch, lernte nebenher noch Englisch. Es war eine gute Schule, aber die Basics muss man sich hart erarbeiten. 

Ihre Küche basiert auf jüdischen sowie auch ukrainischen Wurzeln.
In meiner Familie gab es immer ein harmonisches Zusammenspiel zwischen diesen beiden Küchen. Meine Grossmutter stammt aus Lwiw, dem polnisch geprägten Teil der Ukraine. Die Produkte dieser berg- und waldreichen Region haben meine Küche stark beeinflusst. Viele unserer Rezepte stammen ursprünglich aus Polen. Wir haben zahlreiche gemeinsame Suppen und Gerichte, etwa mit Randen oder Kohl. Dazu fermentieren wir fast alles: Äpfel, Tomaten, Pflaumen, Gurken und sogar Wassermelonen. Letztere sind sehr interessant, vor allem mit einem eisgekühlten Schuss Wodka. 

Und wie definieren Sie die jüdische Küche?
Jedenfalls nicht über koscheres Essen, das ist eine andere Geschichte. Die jüdische Küche enthält viel Gemüse und basiert auf vielen Resten. Es geht darum, die Natur zu respektieren. In meinen Restaurants verfolgte ich immer eine Zero-Waste-Politik. Nichts sollte verschwendet, alles gekocht werden. 

Was genau mögen Sie an Ihrem Job?
Schwer zu sagen. Dass er durch Mark und Bein geht. Beim Kochen kriege ich natürliches Adrenalin. Da brauche ich keine Drogen, keinen Alkohol und keine Zigaretten. Für den Moment, wenn das Restaurant voll ist und die Teller leergefegt zurückkehren, brenne ich.

Wie würden Sie Ihren Kochstil beschreiben?
Nun, ich mache Comfort Food. Essen, das man teilen kann, mit Freunden, der Familie oder Geliebten. Einfach Essen, das einem ein Lächeln entlockt. 

Wie beurteilen Sie die Gastronomie in Odessa?
Wir haben fantastische lokale Produkte: Fleisch, Fisch und Gemüse. Die Stadt ist ein interessanter Mix aus griechischen, italienischen, aber auch deutschen und jüdischen Einflüssen. Eine unserer Spezialitäten gleicht zum Beispiel stark dem deutschen Klassiker Bismarckhering. Leider verfügen die meisten Köchinnen und Köche noch nicht über die nötige Ausbildung, um auf gehobenem Niveau zu kochen. Nur schon die Gewissheit, dass man saisonal arbeiten muss, ist nicht wahnsinnig weit verbreitet. Es gibt derzeit auch keine Fine-Dining-Restaurants in der Ukraine, dafür ist es noch zu früh. Aber ich kenne ein paar sehr gute Berufsleute, die sich allerdings mehr im Bistronomy- und Comfort-Food-Stil bewegen. Das ist mir sowieso lieber. Fine Dining ist spannend, ich finde es aber vor allem wichtig, dass mein Essen noch nach Essen ausschaut. 

Wie bilden Sie sich weiter?
Vor etwa sieben Jahren absolvierte ich den Online-Kurs Science and Cooking der Harvard-Universität. Der ist gratis, und wenn man alle Lektionen erfolgreich abgeschlossen hat, erhält man sogar ein Zertifikat. Ich engagierte zudem einen Chemielehrer, mit dem ich meine Methodik überarbeitete. Die Wissenschaft geht immer Hand in Hand mit der Küche. Es war wichtig für mich, zu lernen, wie man es richtig macht.

Zum Beispiel?
Im Slow Piggy arbeiteten wir viel mit Barbecue und Charcuterie. Wenn man Fleisch oder Fisch beizt, sollte man die chemischen Reaktionen genau verstehen. Das ist ein grosses Problem in der Ukraine. Oft werden da einfach Teller von Instagram kopiert, ohne dass der Koch oder die Köchin verstehen, wie die Zutaten miteinander korrelieren. 

 

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Baba Ghanoush
Baba Ghanoush
Kseniia Amber mit ihrer Souschefin und besten Freundin Marina Kharlamova
Kseniia Amber mit ihrer Souschefin und besten Freundin Marina Kharlamova
Kalbsfilet Mignon mit Kartoffelpüree und Gemüse, aber ohne Sauce
Kalbsfilet Mignon mit Kartoffelpüree und Gemüse, aber ohne Sauce
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Cheesecake auf Misobasis mit Früchten aus dem Garten
Cheesecake auf Misobasis mit Früchten aus dem Garten

Das Slow Piggy bezeichnen Sie als Teil Ihres Herzens.
Es war ein Casual-Dining-Restaurant mit einem Twist. Wir machten viele handwerkliche Sachen: eigenes Brot, eigenen Käse, weich und hart. Dazu gab es einen grossen Räucherofen. Es lief super. Etwa drei Wochen, bevor der Krieg ausbrach, schlossen wir es für ein Rebranding. Mein Team und ich brauchten dringend eine Pause. 

Wo waren Sie am 24. Februar?
In Kiew, mit meinem Mann und meinem Souschef, ich gab ein paar Masterclasses für die Basics der französischen Küche. 

Was passierte dann?
Wir verliessen Kiew. Es war eine lange Reise zurück nach Odessa. Wir fuhren zwölf Stunden anstelle von vier. Es herrschte Panik, es war wie in einem schlechten Film über die Apokalypse. Die Menschen schrien auf den Strassen, rannten davon. Es war absolut beängstigend, auch weil wir in einem der wenigen Autos sassen, das in diese Richtung fuhr. Ich war einfach besorgt um meine Eltern. In Odessa öffneten wir das Restaurant und kochten für die Armee, verbrauchten die ganzen Vorräte. Anschliessend kochte ich mit meiner Schwiegermutter für die armen und einsamen Bewohnerinnen und Bewohner des Quartiers. Dann rief mich der Typ von Madrid Fusión an. 

Und?
Es war eine verrückte Reise, in den letzten vier Monaten reiste ich von Odessa nach Bukarest, dann nach Madrid, Teneriffa und anschliessend weiter nach Italien. Ich war ständig unterwegs für zahlreiche Charity Events. Das war hart. Aber wir verdienten viel Geld für die Non-Profit-Organisation World Central Kitchen, die sich seit den ersten Kriegstagen für die Ukraine im Allgemeinen und für Odessa im Speziellen einsetzt. Sogar als ich als Übersetzerin im Flüchtlingscenter in Madrid mithalf, war ein Foodtruck von World Central Kitchen vor Ort.

Wie erlebten Sie die Madrid Fusión?
Es war eine riesige Verantwortung für mich. Ich war die erste Ukrainerin, die dort jemals auftrat. René Redzepi kannte ich nur aus der Netflix-Serie. Er sagte mir dann, es gebe keinen Grund, nervös zu sein. Das Problem ist, dass ich grundsätzlich immer versuche, im Hintergrund zu bleiben. Wie auch immer: Ich erhielt meine 15 Minuten Berühmtheit. Alle applaudierten, obwohl ich bis heute nicht weiss, warum. Ich bin nicht Wonder Woman und sprach auf der Bühne mehrheitlich über meine Grossmutter und über Borschtsch.

Wie kamen Sie dazu, ausgerechnet im beschaulichen Pays d'Enhaut eine Stelle anzunehmen?
Das war ebenfalls ein lustiger Zufall. Sophie Labarraque, die Eigentümerin des Hotels L’Ermitage, und ich haben eine gemeinsame Freundin. So erfuhr ich, dass Sophie einen Koch oder eine Köchin aus der Ukraine suchte. Ich war damals schon gebucht für ein Projekt in Madrid, reiste aber trotzdem nach Château-d’Oex und beschloss, zu bleiben. Dieser Ort erinnert mich an mein Zuhause. Es gibt hier einen grossen Garten, und wenn ich durch den Wald spaziere, entdecke ich ständig Dinge, mit denen ich arbeiten will. Ich sagte mir: wenn ich einen Michelin-Stern will, bevor ich 40 Jahre alt bin, muss ich hier beginnen. Auf meinen Arm habe ich mir den Satz «promptus ad omnia» tätowieren lassen. Das bedeutet: zu allem bereit. Und genau so ist es. 

Seit dem 1. Juli leiten Sie die Küche des L’Ermitage. Wie läufts?
Zu Beginn waren alle ein bisschen nervös. Sophie stellte mich ohne Probekochen ein und meinte dann, ich soll es langsam angehen mit den Schweizer Gästen, mich bei den Gewürzen und dem Fett zurückhalten, wenn möglich kein Schweinefleisch verwenden. Also starteten wir schrittweise. Die Resonanz war sehr gut, die Teller kamen leer zurück. Mittlerweile weiss ich besser, für welche Gerichte die Gäste wiederkommen.

Sie verzichten auf Saucen. Weshalb?
Ich finde, dass sie ein Gericht oft übertünchen. In Château-d’Oex haben wir zum Beispiel hervorragende Forellen. Die sind so perfekt, dass ich sie ohne Sauce und ohne Zitrone serviere. Das Gleiche gilt für das Filet Mignon: Das Fleisch ist ausreichend saftig, da gibt es nichts hinzufügen. 

Was würden Sie nie kochen?
Ferkel, weil ich keinen Sinn dahinter sehe. Einerseits ist es schrecklich, so junge Tiere zu töten, und dann schmecken sie nicht mal gut. 

Wie lange planen Sie, in der Schweiz zu bleiben?
Im November, wenn das Hotel für die Zwischensaison schliesst, werde ich meine Eltern und meinen Mann in Odessa besuchen. Aber für das, was wir hier vorhaben, brauchen wir mindestens ein Jahr. Ich bleibe also hier.

Zur Person
Kseniia Amber (39) wuchs im Süden der Ukraine in Odessa auf. Nachdem sie sechs Jahre an der Kunstschule (Fachrichtung Keramik) studiert hatte, beschloss sie, das Kochhandwerk zu erlernen. Dafür absolvierte sie während zwei Jahren eine Ausbildung am Culinary Institute of America in New York. 2009 kehrte sie zurück in die Heimat, in der sie einige Zeit als Coach am kulinarischen Institut von Odessa arbeitete. 2014 eröffnete sie hier das Restaurant Frebule. Zwei Jahre später übernahm Amber die kulinarische Leitung des Boutique-Hotels M1. 2017 lancierte die Slow-Food-Botschafterin mit einem Freund das Restaurant Slow Piggy in der Hafenstadt, das rasch zu einer der interessantesten kulinarischen Adressen des Landes avancierte. Das Restaurant ist seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine geschlossen. Seit März tourt Amber quer durch Europa, sie trat als erste Ukrainerin an der Madrid Fusión auf und bestritt zahlreiche Charity-Dinner unter anderem in Madrid, Bra oder San Sebastiàn. Seit Juli leitet Amber die Küche des Restaurants L’Ermitage in Château-d’Oex. 

Restaurant L’Ermitage
Grand Rue 4, 1660 Château-d’Oex 
026 924 25 01
ermitage-chateaudoex.ch