Das dürften Sie als Jungkoch anders erlebt haben. Was machen Sie besser als Ihre Ausbildner?
Wir respektieren heute jüngere Köche, genau weil wir harte Zeiten erlebt haben. Um die Jahrtausendwende arbeitete ich in Rimini sechs Monate ohne einen einzigen freien Tag. Als ich zur obligatorischen Militäraushebung aufgeboten wurde, musste ich beim Chef betteln, dass ich überhaupt dorthin gehen durfte. Würde ich nur ansatzweise so mit meinen Leuten umspringen, wäre ich wieder allein in der Küche.
Ihre Frau Stella ist für die Administration und das Personal verantwortlich, ihr Sohn Aaron geht hier im Dorf zur Schule. Wie entscheidend ist die Lebensphase, um in ein 200-Seelen-Dorf zu ziehen?
Ich bin in den Bergen aufgewachsen, weiss also, wie die Bergleute ticken. Um nach Bahrain und München hierher ziehen zu können, stellte Stella mir eine Bedingung: Das Tal durfte nicht zu eng sein, damit wenigstens die Sonne scheinen würde. Für unseren Sohn ist es das Paradies. Doch vielleicht wird er das Engadin für die Ausbildung schon bald wieder verlassen wollen.
Auch Angebote aus St. Moritz lagen damals auf dem Tisch. Wäre es dort nicht einfacher gewesen?
Gut möglich. Aber dort hätte man seine Gäste nicht auswählen können, sie wären einfach gekommen, mit all ihren Ansprüchen. Wir konnten uns hier etwas Eigenes aufbauen und sind zum Zentrum für einige Gäste geworden. Hier können wir besser arbeiten, mehr wagen und haben Zeit, zu reden. Diese Ruhe, die uns Madulain gönnt, hätte uns in St. Moritz definitiv gefehlt.
In jüngeren Jahren waren Sie leidenschaftlicher Langläufer. Was treibt Sie heute zu Höchstleistungen an?
Ich vergleiche uns Restaurateure gern mit Athleten, die trainieren, um schneller und besser zu werden. Wenn du ohne Partner und Investoren im Rücken wirtschaftest, musst du einfach immer besser werden. Grosse Hotels leisten sich ein Sternerestaurant und können das mit den Übernachtungseinnahmen querfinanzieren. Hier in der Stüva Colani sind der Hotelbetrieb und das Restaurant getrennt, beide Betriebe müssen und wollen Geld verdienen.
Und auffallen. Das tun Sie als erster grüner Chef, eine Auszeichnung von Gault & Millau. Wann fanden Sie das Interesse zur Natur?
Während der Covid-Krise waren wir komplett allein und abgeschnitten. Ich las dieses Buch von Mauro Vaglio über Wildkräuter. Diese Faszination hält bis heute an. Zuerst war da der Gute Heinrich, der wie Cime di Rapa oder wilder Spinat schmeckt, dann kamen 20 Kräuter dazu, heute haben wir ein Repertoire von 120 Wildpflanzen. Wir registrieren sie im Herbarium, einer Liste, die uns hilft, sie nicht wieder zu vergessen.
Der alchemistische Sternekoch Stefan Wiesner aus dem Entlebuch setzt Wildkräuter wohlproportioniert ein. Wie balancieren Sie denn die ungewohnten Bitterstoffe aus?
Im Gourmetbereich verschwinden immer die Geschmacksspitzen, damit alles schön rund wird. Nicht so bei uns, wir wollen etwas wagen. Aber wir haben schon unsere Tricks für die Balance. Ein Beispiel: In der Zuckerwatte, die wir zu Löwenzahnstiel-Mus servieren, halten wir der Bitterkeit mit viel Zucker entgegen. Bei der Wiesen-Minestrone kochen wir den Löwenzahn zu einem Chutney ein.
Unsere Mägen sind es schlicht nicht mehr gewohnt, so naturnah zu essen. Warum sollten wir das ändern?
Weil Wildkräuter gesund sind, ihre Bitterstoffe helfen uns bei der Verdauung. Von den Hotelgästen, die bei mir gegessen haben, will ich jeweils am Morgen wissen, wie ihre Nacht war, wie sie geschlafen haben. Obwohl sie bis zu 14 Gänge gegessen haben, klagt nie jemand über Bauchschmerzen. Bitter ist ein Teil des Lebens. Die Industrie hat vor rund 50 Jahren damit begonnen, Bitterstoffe aus den Gemüsen zu züchten. Kartoffeln beispielsweise wären eigentlich sehr bitter.
Ausgerüstet mit Rucksack, Kräuter-App und Mountainbike, fahren Sie jeden Tag in die Natur. Reichen die Mengen, die Sie sammeln?
Natürlich, beispielsweise lagere ich im Kühlschrank so viel gesammelten wilden Spinat, dass das einen ganzen Winter lang reichen wird. Wir konservieren, destillieren, fermentieren und vakuumieren, denn die Sammelsaison geht irgendwann zu Ende. Von November bis April liegt hier im Engadin Schnee, dann finden wir praktisch nichts. Das heisst aber nicht, dass wir nichts zu tun haben. Diesen Winter will ich Schweine kaufen und eigenen Schinken produzieren. Der braucht richtig viel Zeit, um zu reifen, weshalb wir ihn erst im Winter 2026 aufschneiden werden.
Steht in den Arbeitsverträgen Ihrer mittlerweile 14 Angestellten eigentlich, dass sie auf die Sammeltouren mitkommen müssen?
Das dürfen sie selbst entscheiden. Meine Frau Stella kommt oft mit, auch meinem Sohn gefällt es, wenn er Eierschwämmchen findet. Ein Vorteil des Sammelns ist zudem, dass diese Naturprodukte rein gar nichts kosten. Niemand musste sie giessen, man hat keine Verpackung, man braucht keinen Strom. Sie sind einfach da und warten darauf, gepflückt zu werden.
Auch Wildtiere spielen eine Rolle in Ihren Gerichten. Warum servieren Sie die Hirsch-Croqueta mit Pilzen auf einem Knochen?
Auf einer Tour habe ich Knochen von Wildtieren auf Moos liegen sehen und erkannte so den Kreislauf der Natur. Das Tier hält sich während des Lebens im Wald auf und geht auf Pflanzen wie Moos und Flechten. Nach dem Tod wachsen Pilze auf den Körpern, bis nur noch Knochen übrig sind und sich alles zu Erde transformiert. Auf dem Teller habe ich den Kreislauf mit Moos, Knochen und Flechte dargestellt. Wir haben Hirschfleisch mit Flechten paniert und frittiert, diese Krokette dann auf einem Knochen platziert, der wiederum auf Moos liegt. Und aus der Krokette wachsen kleine Pilze.
Zwei Mal im Jahr kreieren Sie ein neues Menü. Es ist als Brettspiel aufgebaut. Wir brauchen eine Spielanleitung.
Gemeinsam mit den Gästen wollen wir spielen. Das Spiel startet mit einem Glas Wasser, das sich als Tomatenwasser und Parmesan entpuppt. Wir hoffen immer, dass sich die Gäste überraschen lassen. So gibt es auch im August Spargeln, fermentierte natürlich. Oder ein Tiramisotto, bei dem wir die gleichen Ingredienzien wie beim Dessert benutzen, sie aber salzig interpretieren.
Für die Fotos der Gerichte haben Sie uns auf eine Reise durch Ihre letzten 10 Jahre mitgenommen. Reden wir doch mal über die Wald-Minestrone.
Die Minestrone di Bosco hat eine besondere Tiefe. Dank den sonnengetrockneten Pilzen und unbekannten Geschmacksnoten ist das ein besonders spannender Gang. In der Mitte liegt eine durchsichtige Sphäre, die aus wildem Knoblauch und Moosstreifen besteht. Kommt der warme Sud darauf, löst sie sich auf und die Wald-Ingredienzien fangen an, sich zu bewegen. Den Gästen gefällt dieser Gang, den ich nun seit 2021 immer wieder serviere. Und mir natürlich auch.
Und was hat es mit dem Dessert in Form eines Kussmundes, den Sie «Swiss Kiss» genannt haben, auf sich?
Das Gericht habe ich ursprünglich für einen Valentinstag erfunden, aber alle im Team waren sich einig, dass man das auch sonst auf dem Menü finden muss. Auf dem roten Kussmund klebt ein Schweizerkreuz, innen drin sind Schokolade und Appenzeller-Likör enthalten. Es ist ein sehr patriotisches Gericht.
Erklären Sie uns das Gericht «Cuore in mano» von 2022!
Mein Lammzüchter kann Herz, Fuss und Haxen nicht verkaufen. So beschloss ich, die Herzen zu verarbeiten. In meiner Muttersprache haben wir einen Spruch: Das Herz in der Hand zu halten bedeutet, gute Absichten zu haben. So ist das Gericht entstanden. Die Form der Hand haben wir mithilfe einer Silikonform hinbekommen. Darauf platzieren wir Koji-fermentiertes Risotto und schliesslich dünn aufgeschnittenes, sous-vide-gegartes Herz.
Zum Schluss noch Hand aufs Herz: Finden Sie wirklich Zeit, um im Wald und auf Wiesen Wildpflanzen zu sammeln?
Ich muss das einfach tun. Diese anderthalb Stunden sind mein Zentrum, mein Yoga. Dort habe ich neue Einfälle für Gerichte und Kombinationen. In der Natur bin ich allein, wenn von aussen keine Störungen mehr kommen, fliegen mir die Ideen nur so zu. Würde ich mit dem Sammeln aufhören, müsste ich das Restaurant schliessen, weil der Betrieb kaputtginge. Ich brauche diese Kreativität, damit ich mich selbst sein kann. In den letzten 10 Jahren hatte ich noch nie eine kreative Blockade, auch wenn ich nicht jede Idee schnell zu Ende bringe.