Ausgefressen

Die eigentliche Energiekrise

Martin Hablesreiter

Essen ist pure Energie. Jede verwertbare Zelle auf dem Teller verwandelt unser Körper in alltäglich notwendige oder langfristig verwertbare Energie. Vor dem Sport oder zum Frühstück ist das ziemlich praktisch. Eingelagerte, eingefettete Energie am Schwimmreifen mögen wir nicht so.

Unser Körper verbrennt ständig Kalorien zum Überleben. Diese Energie stammt fast ausschliesslich von tierischen und pflanzlichen Organismen. Doch eine «unsichtbare Hand» hinter diesen scheinbar unschuldigen energiereichen Zellen verbrennt fossile Energie. Ukrainische Kohlenflöze, saudische Öl- und russische Gasfelder liefern massiv Energie für die Produktion menschlicher Nahrung. Gegenwärtig beinhaltet jede Kalorie auf dem Teller etwa drei Kalorien aus verheizten fossilen Kohlenstoffen. Das kann die verschwenderische Herstellung von Düngemitteln oder Pestiziden, der Betrieb unzähliger Maschinen in der landwirtschaftlichen und weiterverarbeitenden Produktion oder der globale Transportwahnsinn mit Lebensmitteln sein.

In Europa tobt ein ekelhafter Krieg. Gelangweilte, alte, weisse Männer schicken Tod und Teufel zu den leidenden Bewohnerinnen und Bewohnern fruchtbarsten Lands. Doch damit nicht genug. Die Kriegshunde drohen mit Hunger und Kälte.

Der Ausfall von Getreideimporten aus den kriegführenden Ländern wird das alte, reiche Europa weniger hart treffen als ohnehin hungernde Menschen in geplünderten und ausgebluteten Regionen. In der wohlhabendsten Region dieser Welt malen politische Entscheidungsträger und -trägerinnen eine Energiekrise an die Wand. Uns Europäerinnen und Europäern wird der kalte Winter angedroht.

Merkwürdigerweise fehlt bei den vielen apokalyptischen Visionen dieser Tage der Verweis auf Verschwendung. Europa entwertet und verschwendet Nahrung auf beispiellose Weise. Damit vernichten wir auch jene Energie, die knapp zu werden droht und in Anbetracht des Klimawandels ohnehin eingespart werden sollte. Je nach Region werden bis zu 65 Prozent aller produzierten Lebensmittel weggeschmissen. Oft ist das unbedacht und passiert, aber es ist auch ein Eckpfeiler westlicher Kultur, verschwenderisch zu leben. Viele vorzügliche Fleischteile oder essbare Pflanzen gelten als wertlos, hässlich oder ekelhaft und verrotten bereits auf dem Feld oder hinter dem Schlachtbetrieb. Das ist die Energiekrise.

Es liegt nicht zuletzt auch an der Gastronomie und der Lebensmittelproduktion, die Energieverschwendung zu reduzieren. Das ist nicht nur wirksam, sondern auch deutlich schmackhafter als eine kalte Wohnung.

Martin Hablesreiter

Fooddesigner
Ausgabe: Salz & Pfeffer 4/2022 / Datum: 29.08.2022