Ausgefressen

Grundsätzlich gruselig

Martin Hablesreiter

Da muss ich reinbeissen. Meine Schneidezähne haben einen sogenannten Fehlstand. Sie stehen ein bisschen schräg in meinem Mund herum, und dafür geniere ich mich seit mehr als 30 Jahren. Wegen dieses Makels lächle ich auf Fotos auch nie. Zwar wurden mir als Teenager vier Backenzähne gezogen und ich trug ziemlich lange zwei Plastikstücke mit Metalldrähten zwischen den Mahlzeiten in mir herum, aber es reichte nicht, um damit ein schönes Gebiss zu kreieren.

Gegenwärtig trägt fast jeder junge Mensch ein metallenes Ungetüm im Mund durchs Leben. Die Gebisse der westlich kapitalistischen Zivilisationen werden penibel vereinheitlicht und mittels längerer Prozeduren in ein Schönheitsideal gequetscht. Bald lächelt die Welt wie Hollywood. Das kann durchaus wehtun. Die Dinger reiben an den empfindlichen Schleimhäuten im Mund. Die jungen Kiefer mögen den latenten Druck nicht so und reagieren mit Schmerzen. Oft kann wochenlang nur flüssige oder sämige Nahrung gegessen werden. Das müssen die Kids eben aus- halten. Selbstbeherrschung ist alles.

Ausgerechnet die 36 Zähne, die uns (am besten) ein Leben lang beim Erleben von Lust, Schönheit und gemeinsamem Wohlbefinden ausgesprochen hilfreich sind, hindern aus kosmetischen Gründen junge Menschen eben genau daran – oft jahrelang.

Damit reiht sich die Gebissoptimierung nahtlos in ein globalisiertes Schönheitsprogramm ein. Körper werden mit Gewichten gestählt, mit Ausdauer zäh gemacht, und sie sollen mit der absolut richtigen Ernährung fast ewig optischen Idealen entsprechen. Biopolitik ist grundsätzlich gruselig, meine ich.

Auch ich versuche, mich einigermassen gesund zu ernähren, obwohl ich ob der eher unseriösen und populistischen Diskussionen darüber nicht genau weiss, wie das geht. Auch ich mag gepflegte und selbstbewusste Menschen, und als Künstler fühle ich mich naturgemäss zur Schönheit hingezogen. Aber ich fürchte mich vor Gleichmacherei. Ideale jagen mir kalte Schauer über den Rücken. Und ich mags überhaupt nicht, wenn Menschen, die zu mollig, zu dünn oder zu gross sind oder verstellte Zähne haben, verurteilt, verlacht oder diskriminiert werden. Schönheitsideale drücken Herrschafts- und Machtfantasien aus.

Das Essen indes ist ein friedlicher Akt. Das Essen ist ein Ritual der Toleranz. Das Essen ist der Ursprung von Gemeinschaft, Gesellschaft und Zivilisation. Beim Essen ist jeder willkommen.

Martin Hablesreiter

Fooddesigner
Ausgabe: Salz & Pfeffer 5/2024 / Datum: 10.10.2024