Ausgefressen

Senf auf der Sachertorte?

Zeig mir, was du isst, und ich sage dir, wer du bist! Ob wir Apfelstrudel mit oder ohne Vanillesauce oder Schnitzel mit oder ohne Tunke essen, hat nichts mit Geschmack zu tun, sondern mit Esskultur. Uns schmeckt, was unseren Peer Groups auch mundet, und uns graust vor den Sachen, die bei der Mama und dem besten Freund ebenfalls Ekel verursachen.

Was und wie wir essen, wie wir unser Essen sehen und was wir von unserem Essen erwarten, wird von den Gruppen, innerhalb derer wir uns bewegen, und von deren Kultur bestimmt. Essen setzt soziale und kulturelle Wertvorstellungen in die Tat um. Essen ist eine Frage der Ideologie. Das heisst letztlich, dass wir die Esskultur nachhaltig gestalten müssen, um unsere Food Systems zu transformieren. Beim Essen können neue Ziele wie zum Beispiel der schonende Umgang mit Ressourcen, die Erhaltung von Boden, Wasser und Klima oder die Einhaltung von Menschenrechten umgesetzt werden.

Am Ende ist das eine Frage der Ästhetik. Das Aussehen, der Geruch, der Geschmack, die Haptik und sogar der Sound von Essen gehorchen einer gängigen und allgemein akzeptierten Ästhetik. Wer Apfelstrudel und Wiener Schnitzel zu einem Gericht kombiniert, wird bestenfalls belächelt. Wer Senf auf die Sachertorte drückt, zerstört damit den Kuchen. Was wir kaufen, wie wir zubereiten und wie wir essen, ist eine Akzeptanz gängiger Kulturtechniken und Ästhetiken. Und genau diese Faktoren sind gegenwärtig von einer globalisierten Massenkonsumkultur geprägt. Wir empfinden Supermärkte als schön. Wir begehren Industrielebensmittel in knallbunten Plastik- und Aluminiumverpackungen. Wir kaufen leidenschaftlich und ständig viel zu viele, viel zu grosse und viel zu ungesunde Produkte, ohne deren Herkunft, deren Zusammensetzung, deren Pestizidanteil oder deren Zusammenhang mit Menschenrechten zu kennen. Dennoch freuen wir uns. Der Supermarkt ist eine Konsequenz der industriellen Massenproduktion und ein Abbild einer ressourcenverschwenderischen Gesellschaft. Er offenbart den Massenkonsum als soziales und kulturelles Prinzip.

Dabei liegt es in unserer Macht als politische Subjekte, als Gestalterinnen und als Kochkünstler, Werte, Bedeutungen und Kultur mit ästhetischen Mitteln zu verschieben. Wir können Werte, also Kultur, verändern, ja aktiv gestalten. Die Nahrungs- wende ist daher auch eine Kulturwende. Ästhetik spielt dabei eine zentrale Rolle. Um unseren Lebensstil respektive unsere Esskultur und unsere Art, über Essen zu denken, zu verändern, müssen wir neue Erzählungen und neue Ästhetiken schaffen. Ohne ein positives, kulturelles Bild, ohne Kreativität, ohne das Undenkbare denkbar zu machen, werden wir die nachhaltige Wende und damit eine lebenswerte Zukunft nicht schaffen.

Martin Hablesreiter

Fooddesigner
Ausgabe: Salz & Pfeffer 1/2024 / Datum: 13.02.2024


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