Aufgebrüht

Das Mass aller Dinge?

Zurück aus dem erholsamen Dolce far niente Italiens, die heissen Sommerstrahlen noch im Gesicht und den Duft von frisch gebrühtem Espresso noch in der Nase. Heimgekehrt aber auch (einmal mehr) mit der unumstösslichen Überzeugung, seine Ferien nicht nur im Land der besten Pasta und Pizza, sondern auch dort gemacht zu haben, wo der einzige richtige Kaffee zu Hause ist – nämlich der Espresso.

Bestätigt werde dies bereits an der ersten Tankstelle nach dem Gotthard, eng gedrängt an der hektischen Bar den ersten Espresso trinkend, hört man von den vom Süden angezogenen Mitbürgern und Mitbürgerinnen gern. Der kräftige Körper, die nussigen Noten, die Crema, die kaum wahrnehmbare Säure werden dabei als jene Eigenschaften aufgezählt, die den Espresso zum besten machen. Bereits im Buch «Kaffee – von der Bohne zum Espresso» erhoben die legendären Röster Francesco und Riccardo Illy diesen zum alleingültigen Credo: «Die Zubereitungsart des Espresso ist sicher die ‹fürstlichste› unter allen Methoden. Nur ihm gelingt es, in der Tasse alle edlen Bestandteile des Kaffees zu vereinen.»

Das Ganze ruft nach einer näheren Betrachtung jenes Getränks, das nach klassisch italienischem Rezept mit sieben Gramm Kaffee auf 20 Milliliter Wasser gebrüht wird, während man bei uns traditionellerweise eine volle Tasse bevorzugt und somit 45 Milliliter bei nur zirka zwei Gramm mehr Kaffee verwendet. Das ist einer der Gründe, wieso der italienische Espresso so viel kräftiger daherkommt. Ein weiterer ist der häufig höhere Anteil an Robusta, der nebst erdigen und nussigen Aromen auch einen kräftigeren Körper aufweist. Die im Robusta natürlicherweise vorkommende höhere Menge an Bitterstoffen, deren Wahrnehmung durch die sehr dunkle, teils fast verkohlte Röstung noch verstärkt wird, scheint die Sonnenanbeter und -anbeterinnen nicht zu stören.

Und so schwärmen sie auch von der wunderschön glänzenden Crema. Wer diese allerdings mal isoliert verkostet, dem wird die Wucht der Bitterstoffe ein Graus sein. Dass ausgerechnet diese sensorische Bitterbombe den Espressogläubigen als ultimativer Beweis für den einzigen und wahrhaftigen Kaffee dient, lässt sich wahrlich nur mit einer blinden und gehorsamen Liebe zu Bella Italia erklären.

Weil wohl eben allen, die mit dem Ein-Schluck-Espresso die Ankunft in Italien feiern, während sie dem Gewusel und der ferienbedingten Reisehektik zum Trotz lässig mit dem Fuss auf der Barstange «un caffè» geniessen, automatisch die Geschmacksknospen durchbrennen.

Nadja Schwarz

Kursleiterin Sensorik, Kaffeemacher GmbH
Ausgabe: Salz & Pfeffer 5/2023 / Datum: 03.10.2023


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