Kindheitserinnerung mit Lardo

Ist Nachtisch out oder gehört dem Dessert die Zukunft? Muss Gemüse ins Essen, oder ist Gänseleber-Mousse der neue Hit? Händeringend versuchen Patissiers, den süssen Menüabschluss fortzuentwickeln – und ihre eigene Rolle zu definieren.
Text: Wolfgang Fassbender
Veröffentlicht: 11.08.2017 | Aus: Salz & Pfeffer 5/2017
Schokolade 70%, Pflaume, Zichorie von René Frank, Restaurant Coda, Berlin – Foto: ett la benn
Joghurt, Fenchel, Feige und Honig von Kay Baumgardt, Gasthaus zur Fernsicht, Heiden – Foto: Jürg Waldmeier

«Ab einem gewissen Punkt kocht man nur noch für die Eitelkeit.»

Wenn der Spanier Jordi Roca i Fontané das Podium erklimmt, den Gastraum betritt, umweht ihn das, was der gemeine Patissier eher selten ausströmt: die Aura der Legende, der Duft des Stars. Womöglich im wahren Sinne, denn bekannt wurde der eher schüchterne «Dessertman» des dreifach besternten El Celler de Can Roca mit seinen Parfüm-Dekonstruktionen. Als Patissier dermassen zu Ehren zu kommen, weltbekannt zu werden, der Grant Achatz des Zuckers, der Eckart Witzigmann des Schokokuchens: Das wär doch was!

Aber wäre es wirklich etwas? Andy Vorbusch, Chefpatissier im Zürcher Dolder, kennt seine Rolle gut, weiss um die Gefahren, die nicht nur Allgemeinköche, sondern auch so manchen Spezialisten für Glaces und Cremes befallen. «Ab einem gewissen Punkt kocht man nur noch für die Eitelkeit», sagt der Deutsche. Oder anders ausgedrückt: «Wer hat die dicksten Eier?» In den Drei-Sterne-Restaurants, in denen Vorbusch zuvor in führender Position die letzten Menügänge verantwortete, im Sonnora in der Eifel und im Vendôme bei Köln, war eines klar: Vorne steht der Küchenchef, der «Puddingkoch» muss sich einreihen. Es bleibt ihm ja auch nichts anderes übrig, denn voll entfalten kann sich kaum einer, solange er nicht eine geniale Konditorei führt oder ein eigenes Dessertrestaurant eröffnet. Eines wie das Espaisucre in Barcelona oder das Coda in Berlin. Ob Letzteres einen Stern haben wird, wenn der Michelin 2018 erschienen ist? Fraglich. Obwohl selbst der ja nur ein Scherz wäre, denn Inhaber René Frank geliert, friert und pacossiert ja keinen Deut schlechter als zuvor im Drei-Sterne-Lokal La Vie. Also wäre die Forderung nach zwei oder drei Sternen für die neue Dessertbar an der Spree, die Süsskartoffel mit Mango mischt, Peperoni mit Büffelmilch, Banane mit Darjeeling, nichts weniger als realistisch.

Doch der Michelin ist noch hinterm Mond, der Gault & Millau manchmal in der Mars-Umlaufbahn, wetterte doch dessen deutsche Chefin soeben erst in einem Artikel gegen Gemüse im Nachtisch. Als ob es einen grundlegenden Unterschied zwischen Apfel und Tomate gäbe, zwischen Rande und Rhabarber. Auch unter Profis haben Desserts halt längst nicht jenes Renommee, das Vor- und Hauptspeisen geniessen. Um den Stellenwert der Branche zu steigern, hülfe es wohl schon, den Kontakt zwischen Patissier und Gast zu intensivieren. Kay Baumgardt, Chefpatissier im Appenzeller Gasthaus zur Fernsicht, geht gern auf Erklärungstour an den Tisch, Küchenchef Tobias Funke lässt Freiraum.

Eine rare Konstellation, die Baumgardt motiviert, sich Gedanken über die Zukunft der Patisserie zu machen. «Ein Dessert sollte immer noch der Abschluss eines Menüs sein und den Gast nicht überfordern.» Was auch Vegetabiles einschliessen kann. Gurke und Fenchel? Kein Problem. Aber Stopfleber? Baumgardt winkt ab, und Vorbusch schaut, als hätte man ihm Sprüngli-Luxemburgerli serviert. Christian Hümbs dagegen lächelt fein, nimmt sich Zeit fürs Gespräch. Der Mann ist kein Aufschneider, weiss ziemlich gut, was er kann. Seine Kirschen mit Douglasie, Knäckebrot und griechischem Joghurt machen gerade Furore, die Erdbeeren mit Sauerteig und Weizengras zeigen eine eigene Handschrift. Sogar mit Lardo, Kaisergranat, Burrata oder Hühnerhaut hat der Star der deutschsprachigen Patisserie, der unlängst von Hamburg ins Münchner Atelier wechselte, kein Problem. Was nicht heisst, dass alles im À-la-carte-Programm zur Verfügung stünde. Hümbs, Vorbild für Dutzende junger Nachtischpatissiers, hat sich auch mit sogenannten Aromenmenüs einen Namen gemacht. Teure Dessert­-Speisenfolgen, als Events beworben, in denen Patisserie auf die Spitze getrieben wird.

Haselnüsse und Sanddorn fürs Dolder-Zweitrestaurant von Andy Vorbusch â€“ Foto: The Dolder Grand
Avocado, schwarzer Reis und Yuzu von André Siedl, Restaurant Ecco, Zürich â€“ Foto: Jürg Waldmeier
«Orangen» – Chili-Granité, Karamell, Crème Fraîche, Haselnuss-Crunch von Julien Duvernay, Restaurant Stucki, Basel – Foto: Marcel Studer
Randen in verschiedenen Farben von Christian Hümbs, Restaurant Atelier, München – Foto: Melanie Bauer Photodesign
Blutorange, weisser Sesam, Basilikum von Kay Baumgardt, Gasthaus zur Fernsicht, Heiden â€“ Foto: Adrian Ehrbar Photography
Grüntee-Granité, Bergamotte-Lassi, Joghurt-Mousse von Julien Duvernay, Restaurant Stucki, Basel – Foto: Marcel Studer
Aubergine, Pekannuss, Apfelbalsamico von René Frank, Restaurant Coda, Berlin – Foto: ett la benn

Doch was heisst eigentlich Spitze? Als ob es nur um Ausgefallenheit ginge. Man kann mit Fug und Recht daran zweifeln, dass die Gäste wirklich, über einen kleinen Club von neugierigen Freaks hinaus, Exal­tiertheiten, Egotrips und zuckrige Spinnereien schätzen. Andererseits: Zu Julien Duvernay ins Basler Stucki geht man ja auch, um seine filigranen Süssspeisen mit Quinoa und Rucola, mit Ananas und Sellerie zu kosten, die aus der Zusammenarbeit mit Chefin Tanja Grandits entsprangen. Der Mann hat zwar ein wegweisendes Dessertbuch geschrieben, sich aber – ein Erfolgsrezept! – nie in den Vordergrund gedrängt. Irgendwie wirkt der Franzose, dessen Deutsch auch nach vielen Jahren in Basel sehr überschaubar ist, als lebe er in seiner eigenen Welt. Apropos: Autisten der Küche seien die Patissiers, raunen die eher auf Pikantes spezialisierten Köche, wenn keiner ausser den eigenen Commis hinhört und der lauschende Journalist übersehen wird.

Allen gemeinsam ist, den halbwegs Lauten und den ganz Leisen, dass ihre Welt längst von der Technik bestimmt wird. Steamer, Pacojet und Dehydrator werden emsig genutzt, Chips hergestellt, Texturen gebildet, Gels in die Flasche gefüllt und feste Bestandteile in ihre Krümel zerlegt. Auch die modernen Zutaten sind nicht zu unterschätzen. Dass er mit Azuleta oder Crumiel arbeitet, mit Sparkys und Yopol hängt kaum ein Patissier an die grosse Glocke, nennt allenfalls Gelatine und Agar-Agar als Hilfsmittel. Am Schluss geht es leider fast immer um Konstruktionen, die gebaut werden, um einen Kanon der Gepflogenheiten. Gestern der Waldspaziergang, morgen die Mondwanderung? Irgendwo muss es eine geheime Dessertbehörde geben, die jeden süssen Teller abnimmt. Ist auch was Knuspriges drauf, was Weiches, mangelt es nicht an Eisigem und Cremigem? Nur ja alles, wie vorgeschrieben von den grossen Namen, den Kritikern, den Guides.

Und das Warme? Das frisch Gebackene? Völlig aus der Mode gekommen. Dauert zu lange, ist zu unsicher, kann auch keiner mehr. Blätterteig selbst machen, schwarzweiss marmorierte Stäbchen basteln, gar ein Soufflé à la minute an den Tisch bringen: Technik hat die Branche versaut, die fehlende Zeit für Aus- und Fortbildung macht es nicht besser. Patissier Yohan Coiffard, der sich im Le Chat-Botté in Genf auch auf Soufflés spezialisiert hat, ist eine Ausnahme. Selbst die Crème brûlée, der Goldesel der Gastronomie, wird ja oft eher lustlos zusammengestückelt. «In eine Schokoladenmousse musst du genauso viel Liebe stecken wie in ein Gemüsedessert», sagt Andy Vorbusch. Muss ja nicht so zuckrig sein wie früher, im Gegenteil. Möglichkeiten, den Zuckergehalt zu reduzieren, gibt es immer noch, die Balance zwischen Frische und dem Mindestmass an Süsse, das einem Dessert systemimmanent ist, bekommen nur wenige hin. Gegen Exotisches hat der Dolder-Koch übrigens nichts, sofern es passt. Topinambur mit fermentierter Schalotte kombiniert Vorbusch nicht aus Effekthascherei, sondern weil die Zwiebel nach einiger Zeit malzig-kaffeeartige Noten annimmt.

Wie die süsse Branche morgen und übermorgen aussieht, ist unklar, schliesslich fällt der Posten bisweilen Sparmassnahmen zum Opfer. «Man wird sehr bekannte Geschmäcker und Komponenten präsentieren», sagt André Siedl, aufstrebender Chefpatissier im Zürcher Ecco, «mit zusätzlich einer Zutat, bei der man denkt, passt das? Ist das Dessert?» Kay Baumgardt spricht gern von «Kindheitserinnerungen mit dem gesunden und nicht zu süssen Twist». Und Andy Vorbusch macht deutlich, dass man ja Eis auch mal frisch drehen kann, ohne Pacojet, dass Schokotruffes auch ohne vorgefertigte Hohlkörper zu fertigen sind, dass die Sache aber so oder so Substanz haben muss. Egal ob sie mit Gemüse gefertigt wird, mit Leber, selbstgesammelten Waldkräutern oder der Schokolade, mit der man Gäste nach einem langen Menü gut einsammeln könne. «Experience», so Vorbusch, «ist interes­santer als Experiment.»

Dessertcocktail statt Dessertwein
Beerenauslesen sind gut, Sherry macht Spass, Madeira ist ein unentdeckter Schatz. Doch wer sich, was die flüssige Begleitung innovativer Desserts angeht, nur auf vergorenen Traubensaft beschränkt, verpasst grandiose Aromenbilder. Sake, Pflaumenwein und Tee sind spannende Alternativen, Brände genial. Doch nichts geht über speziell zu den Desserts gemixte Cocktails, wie sie das Coda in Berlin serviert. Traube, Nuss und Alge (zum Kiwi-Dinkelgras-Himbeer-Dessert) oder Oolong-Tee mit Oloroso-Sherry zum Nachtisch mit Aubergine, Pekannuss und Apfelbalsamico: unübertrefflich.

Desserts ohne Ende? Auch in der Schweiz!
Einen ganzen Abend lang nur Nachtisch? Kann man haben – etwa im Espaisucre in Barcelona. Oder im Restaurant Coda in Berlin, in dem ausschliesslich Desserts der mehr oder sehr viel weniger zuckrigen Art serviert werden. Wer nicht nach Berlin reisen will: René Frank kommt nach Zürich und serviert zusammen mit Andy Vorbusch Ende 2017 ein Dessertmenü. Infos gibts beim The Dolder Grand.
www.thedoldergrand.com



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