Mehr als Saft

Gastronomen entdecken neben der klassischen Wein- allmählich auch die alkoholfreie Speisenbegleitung. Die eröffnet nicht nur neue Spielräume, sondern spült zusätzliches Geld in die Kasse.
Text: Sarah Kohler – Fotos: Jürg Waldmeier – z. V. g. – Getränkekreationen: Jennifer Kiessling fürs Zürcher Pop-up Brutal
Veröffentlicht: 06.08.2019 | Aus: Salz & Pfeffer 5/2019
Farblicher Wow-Effekt aus der Teekanne: Agua fresca – einmal mit Wassermelone, einmal mit Gurke
Sommerlich-frische Kombination: Shrub mit Rhabarber und Rosmarin

«In allen Ländern mit Weinhistorie fehlt der Blick aus einer anderen Perspektive – nämlich der, dass auch eine alkoholfreie eine gute Begleitung sein kann 

Nein, Jennifer Kiessling mag Wein nicht: Sie liebt ihn. Das sei vorausgeschickt in dieser Geschichte, in der sich alles um gute Alternativen dreht. Alternativen zum Wein – für die Kiessling an dieser Stelle eine Lanze bricht. Die erklärte Getränkeenthusiastin machte sich vor gut einem Jahr selbstständig. Pairing is caring, so heisst ihr Unternehmen, und der Name beschreibt treffend, was Kiessling beruflich tut: Sie berät Gastronomen bei der Konzeption ihrer Getränkekarten sowie Speisenbegleitungen und hat sich auf Pairings ohne Volumenprozente spezialisiert. Einen Namen machte sie sich schon 2017, als sie an der Seite der Bündner Naturköchin Rebecca Clopath erstmals für deren Tafelrunden die Getränke kreierte. Unlängst trat sie in Zürich in Erscheinung: mit alkoholfreien Drinks für das Sommer-Pop-up Brutal im Restaurant Coming Soon. Das Menü wechselte wöchentlich, das Pairing ebenso. «Bei der alkoholfreien macht man nichts anderes als bei der Weinbegleitung», sagt Kiessling. «Man achtet auf die Dramaturgie und darauf, den Gast nicht zu überfordern, indem man mit etwas Zugänglichem startet und die Komplexität steigert. Kurz: Man stimmt die Getränke aufs Essen ab.»

Das bestätigt Amanda Wassmer-Bulgin, Wine Director im neu eröffneten Grand Hotel Quellenhof in Bad Ragaz: «Wie bei der Weinbegleitung versuche ich auch beim alkoholfreien Pairing, das Gericht erst auf seine Moleküle herunterzubrechen. Dann schaue ich, welche Geschmacksrichtungen passen.» Die Sommelière gehört in der Schweiz zu den Vorreitern, was alkoholfreie Pairings betrifft. Das Eröffnungsmenü im Restaurant Memories unter der Ägide ihres Ehemanns Sven Wassmer komplettierte sie nicht nur mit einer illustren Auswahl an Weinen, sondern auch mit einer spannenden Reihe an alkoholfreien Getränken, darunter Gin, Heu-Kombucha, Wildbeerensaft und verschiedene Tees.

Und trotzdem: Wirklich vergleichen respektive einfach kombinieren kann man Weinbegleitung und alkoholfreies Pairing dann doch nicht. «Sie folgen ähnlichen Regeln, aber unter anderen Bedingungen und in verschiedenen Geschmackswelten», sagt Kiessling. Wichtigster Unterschied ist nicht der «fehlende» Alkoholgehalt, sondern der Prozess, der dem Pairing vorausgeht. Kiessling etwa fermentiert und destilliert, was das Zeug hält, sie macht ein und zieht aus, mischt und experimentiert. Für eine raffinierte alkoholfreie Speisenbegleitung reicht es nicht, eine Flasche zu öffnen.

Aber warum, kann man sich fragen, brauchts überhaupt eine Alternative zur Weinbegleitung – neben ordinärem Wasser und den üblichen Süssgetränken? Mehr als eine Antwort darauf kennt Nicole Klauss. Die Berlinerin ist kulinarische Autorin («Die neue Trinkkultur»), Beraterin für die Gastronomie und Referentin. Und sie gilt in der Branche mit als Gradmesser, wenns um alkoholfreie Pairings geht. «Einerseits», sagt sie, «gibts immer mehr Gäste, die keinen Alkohol trinken, andererseits möchten auch diese eine passende Begleitung zum Essen bekommen. Der Krug Hahnenwasser oder ein süsser Eistee macht niemanden mehr froh.» Klauss ortet da in der Schweiz Luft nach oben: «Wie in allen Ländern mit Weinhistorie fehlt der Blick aus einer anderen Perspektive – nämlich der, dass auch eine alkoholfreie eine gute Begleitung sein kann», sagt sie. Dass Bedarf besteht, sieht man inzwischen aber auch hier. «Der Trend geht seit einigen Jahren dahin, dass die Gäste weniger und bewusster Alkohol trinken», sagt Benjamin Gilly, Restaurantleiter im Corso und von Unikatessen im Corso in St. Gallen. «Die Gastronomie muss da aus ihrer Komfortzone raus und ein Angebot schaffen.» Das habe schliesslich grosses Potenzial: «Ich kann die Gäste abholen, die getränketechnisch im Abseits stehen. Schwangere, Autofahrer, Gesundheitsbewusste, Minderjährige... eine riesige Gruppe, die bislang mit Mineralwasser abgespeist wurde.»

Gilly schwärmt von den Möglichkeiten des alkoholfreien Pairings: «Der Spielraum ist wesentlich grösser als bei der Weinbegleitung», sagt er. Das sieht Kiessling ebenso. Ob Temperatur, Textur oder Farbe: Der Fantasie sind kaum Grenzen gesetzt. «Dahingegen ist die Weinbegleitung nur schon visuell beschränkt: Es gibt eine Range an Farbe und Viskosität, dazu verschiedene Gläser – das wars.» Bei der alkoholfreien Begleitung ist das Feld weiter: mit Frucht- und Obstsäften, Milchprodukten wie Molke oder Buttermilch, Fermentiertem wie Kombucha oder Wasserkefir, Tees und Auszügen, essigbasierten Getränken wie Shrubs oder Verjus... um nur ein paar Beispiele zu nennen.

Kiessling kokettiert in ihren Pairings gern mit Farben, wobei die Saison eine tragende Rolle spielt: Während ein leuchtendes Grün im Sommer Erfrischung verheisse, passe es im Winter höchstens in Verbindung mit Tannennadeln, findet sie. Fürs Brutal-Pop-up produzierte sie diverse Aguas frescas, also leichte Mischungen aus Wasser, Frucht und Zucker, unter anderem eins mit Wassermelone (sehr rot) und eins mit Gurke (sehr grün). Ausgeschenkt aus der blickdichten Teekanne war der Überraschungseffekt am Tisch garantiert. Auch das, sagt Kiessling, sei spannender als beim Wein: «Man ist im Service freier, kann die Getränke aus diversen Gefässen ausschenken, sie am Tisch in der Soda-Flasche frisch aufsprudeln oder sogar aus dem Rahmbläser ins Glas sprühen.» So gesehen erstmals im Horváth in Berlin – Kiesslings liebster Referenz in Sachen alkoholfreie Begleitung. «Wenn man es gut aufgleist, ist das alkoholfreie Pairing für den Gast oft spannender als der Wein», sagt sie. «Und immer mehr Leute teilen sich auf: Einer bestellt das Pairing mit, der andere jenes ohne. Dann wird quer verkostet.»

Gruss aus dem «Getränkelabor»: mit Dinkel fermentierter Quittenmost
Spritzige Mischung: Apfelverjus vom Biohof Mausacker mit hausgemachtem Holunderblütensirup, frischer Zitronenmelisse und Gents Swiss Tonic Water
«Mit gut gemachten Alternativen kann der Gastronom den Pro-Kopf-Umsatz erhöhen», sagt Nicole Nicole Klauss, Autorin und Gastronomieberaterin.
«Wenn man es gut aufgleist, ist das alkoholfreie Pairing für den Gast oft spannender als der Wein», sagt Jennifer Kiessling, Inhaberin von Pairing is caring in Zürich.

So weit, so gut. Nun birgt aber auch die alkoholfreie Speisenbegleitung Risiken – insbesondere in Sachen Zucker. «Man muss aufpassen, dass es nicht zu süss wird und man nicht zu viele Säfte verwendet», mahnt Kiessling. Tatsächlich lauert da die grösste Stolperfalle: Frische Frucht- oder Obstsäfte bieten sich als Essensbegleiter (analog zum Wein) an, sie enthalten aber jede Menge Zucker sowie Fruchtsäure und fordern den Magen-Darm-Trakt des Gasts ab einer gewissen Portion ordentlich heraus. «Wenn ich zu jedem Gang einen Saft serviere, ist der Gast schnell übersättigt», so Wine Director Wassmer-Bulgin.

Die Problematik kennt auch Restaurantleiter Gilly. Er spricht sich in diesem Kontext für die Produkte vom Obsthof Retter in der Steiermark aus: «Die Säfte sind nicht zu füllend, was oft das Problem ist», sagt er. Tatsächlich feiert die Edition Sommelier von Retter durchschlagende Erfolge, wie Andreas Etter von der Jeroboam AG bestätigt: Er vertreibt die Säfte, die für Pairings in der Spitzengastronomie wie gemacht sind und über ein ausbalanciertes Verhältnis von Süsse und Säure verfügen, seit August 2017 exklusiv in der Schweiz. Ein Highlight ist die Wild Edition Sommelier, für die wild gesammelte Beeren, Früchte und Trauben zu hochwertigen Direktsäften gepresst werden. Etter ist überzeugt, dass die Produkte optimal in die Sterne-Küche passen: «Es stellt sich ja immer auch die Frage, inwiefern diese die Ressourcen hat, um alkoholfreie Getränke selber herzustellen», sagt er. «Die pasteurisierten Wild-Säfte werden wie Wein nur noch aufgeschraubt und ausgeschenkt.» Die Nachfrage gibt ihm recht: Die Retter-Säfte kommen inzwischen in so manchem Schweizer Spitzenrestaurant in der alkoholfreien Speisenbegleitung ins Glas.

Auch, weil man erkennt, wie rentabel das Konzept ist. «Mit gut gemachten Alternativen kann der Gastronom den Pro-Kopf-Umsatz erhöhen», erklärt Klauss. «Jeder, der eine Karte mit alkoholfreien Getränken wie Colafantasprite, Rivella und Wasser präsentiert, verzichtet auf einfach zu generierenden Umsatz.» Selbstgemachter Eistee («gern auch mal aus Grün- oder Weisstee mit Kräutern») ist mit wenig Material rasch hergestellt und gut haltbar. «Er kann für fünf bis acht Franken das Glas verkauft werden», rechnet Klauss vor. Ähnlich lukrativ sei aromatisiertes Wasser mit Kräutern oder Obst oder das Gärgetränk Wasserkefir. Und die Beraterin kalkuliert weiter: Für eine durchdachte alkoholfreie Begleitung könne der Gastronom mit rund 40 Franken zusätzlichem Umsatz rechnen.

Den finanziellen Mehrwert auf Betriebsseite betont auch Kiessling: «Selbst wenn man fürs alkoholfreie Pairing nicht den gleichen Preis wie für die Weinbegleitung verlangen kann – zumindest noch nicht –, liegen vernünftige Margen drin», sagt sie – und verweist auf einen weiteren Vorteil: «Man kann auch sehr ressourcenschonend arbeiten.» Für Shrubs etwa lassen sich übriggebliebene Schalen verwerten. Im Brutal stellte Kiessling beispielsweise eine Variante mit Gurken und Limetten her. Sie pürierte die komplette Gurke, passierte sie ab, presste die Limetten aus. Die Schalen von beidem legte sie in Essig ein, süsste das Ganze – und fertig war die Begleitung zu Zander-Ceviche mit Senfkörnern und gepickelten Gurken. «Das funktioniert auch mit Karotten oder anderen Wurzelgemüsen, die man entsaftet», sagt sie. «Da bleibt viel Pulpe übrig, die genug Power hat, um noch Teil eines Getränks zu sein.» Zusätzliche Warenkosten: quasi null. Ähnliches schlägt Foodhistoriker Dominik Flammer vor, der sich ebenfalls mit alkoholfreien Getränken befasst: «Abfallprodukte aus der Käseherstellung, etwa Trinkmolke oder -buttermilch, lassen sich mit Früchten, Kräutern oder Sirup einfach aromatisieren», sagt er. «Das lohnt sich nicht nur zur Profilierung des Betriebs, sondern auch finanziell.»

Aber ist das nicht unglaublich aufwendig? «Die alkoholfreie Begleitung ist am besten, wenn sie frisch gemacht ist, sowohl vom Produkt als auch von der Produktion her», findet Restaurantleiter Gilly. «Insofern ist der Aufwand im Vergleich zur alkoholischen Begleitung, für die das Produkt in der Regel fertig in der Flasche auf den Konsum wartet, recht gross.» Kiessling räumt ein, dass das Konzept in dieser Tiefe nicht für jeden Betrieb umsetzbar sei, wiegelt aber ab: «Klar gibt es Schritte, die man gut planen muss: Die Fermentation etwa braucht Zeit und vor allem anfangs Zuwendung. Aber sonst ist der Aufwand überschaubar.»

Bleibt die Frage, wer sich darum kümmert. «Im Idealfall ist es eine Schnittstelle zwischen Küche und Service», findet Kiessling, «weil sich gewisse Schritte gut in den Kochalltag einbauen lassen.» Im Berliner Restaurant Horváth ist die alkoholfreie Speisenbegleitung gar Küchenchefsache: Sebastian Frank nimmt sich ihrer persönlich an, während die Weinauswahl in der Verantwortung des Sommeliers liegt. Anders ist die Zuständigkeit in Bad Ragaz organisiert: Als Sommelière ist Wassmer-Bulgin nicht nur bei den alkoholischen Getränken federführend, sondern mischt auch bei der Kreation der alkoholfreien Begleitung entscheidend mit. «Das grösste Potenzial liegt darin, Hand in Hand mit der Küchencrew zu arbeiten», sagt sie. «Gemeinsam können wir grossartige Drinks kreieren, denn die Küche kann Techniken einbringen, die mir vielleicht noch gar nicht bekannt sind.»

Experimente mit Tee und Kräutern
Ein weites Feld im weiten Feld ist jenes der Tees und Auszüge. Als Expertin des Tee-Pairings gilt in der Schweiz Amanda Wassmer-Bulgin. Zum Eröffnungsmenü im Restaurant Memories im Grand Hotel Quellenhof in Bad Ragaz liess sie im Rahmen der alkoholfreien Begleitung nicht nur einen Quitten-Eistee ausschenken, sondern auch eine Kreation mit Shiitake und Oolong sowie einen kalt aufgebrühten Woori-Schwarztee. Mit der Cold-Brew-Technik beschäftigt sich auch die kulinarische Autorin und Gastroberaterin Nicole Klauss: Die Teeblätter lässt man im kalten Wasser über Nacht ziehen. Bei der Ice-Brew-Technik ziehen die Blätter für zwei Stunden mit Eiswürfeln. «In beiden Fällen zeigen sich fruchtige Aromen im Glas», so Klauss, die nicht nur mit der Teepflanze experimentiert, sondern auch mit Baumnuss-, Haselnuss- oder Himbeerblättern. «Sie sorgen, heiss aufgebrüht, für Spannung – und zwar ohne Koffein. Auch das ist ja beim Abendessen für manchen Gast ein Thema.»

Apropos: Foodhistoriker Dominik Flammer plädiert auch im Glas für den Einsatz von Wildkräutern – und führt das sogenannte Nusswasser als Beispiel an. Das Getränk wurde im Zürcher Oberland einst traditionell getrunken: Frische Walnussblätter kommen für 20 Sekunden ins kochende Wasser, das abgekühlt und mit etwas Honig gesüsst wird. «Wunderbar würzig!»

Verlosung: Gebündeltes Wissen 
Dass es zum (guten) Essen mehr gibt als den passenden Wein oder das passende Bier, weiss Nicole Klauss mit am besten. Mit ihrem Buch «Die neue Trinkkultur» zeigte die kulinarische Autorin aus Berlin schon 2017, wie vielfältig sich ein Menü auch ohne alkoholische Getränke abrunden lässt. Ob Wasser, Saft, Milch oder Tee, ob Shrub, Kombucha oder Wasserkefir: Klauss erklärt, was die Getränke auszeichnet, liefert Rezepte und konkrete Pairing-Tipps, jede Menge brauchbarer Infos sowie unterhaltsamer Anekdoten, die der Leser beim nächsten (alkoholfrei begleiteten) Essen in geselliger Runde gleich mitauftischen kann.

Wir verlosen drei Exemplare von «Die neue Trinkkultur»: Interessenten senden bis am Dienstag, 13. August 2019, ein Mail mit ihrem Namen und ihrer Postanschrift an redaktion@salz-pfeffer.ch. Die Gewinner werden persönlich benachrichtigt, über die Verlosung wird keine Korrespondenz geführt.

Die neue Trinkkultur, ISBN: 978-3-492-22199-3, EUR 12, www.piper.de



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