Von der Not zur Tugend

Hirse, Gerste, Weisskraut oder Randen sind nur einige Zutaten, mit denen Würste im Alpenraum bis heute «gestreckt» werden. Geschah dies einst aus Mangel an teurem Fleisch, stehen heute andere Aspekte im Zentrum.
Text: Dominik Flammer – Fotos: Sylvan Müller, Dominik Flammer
Veröffentlicht: 23.02.2021 | Aus: Salz & Pfeffer 1/2021
Zwei Metzger sind es noch, die im Vallée de Joux die Frâche produzieren: Sie enthält nebst Schweinefleisch auch Schweineleber und gekochten Weisskohl oder Kohlrübe.

«Seit einiger Zeit gibt es auch Neukreationen, die mit grossem Erfolg lanciert wurden.»

Der Metzgergeselle schaut seinem Chef beim Wursten zu und meint schliesslich: «Wenn das rauskommt, was da reinkommt, kommen Sie irgendwo rein, wo Sie nie mehr rauskommen.» Dieser alte Witz erzählt viel über die Vorurteile gegenüber der Wurst. Das Bild, dass in diese nur mindere Fleischteile, Innereien oder Schlachtabfälle kommen, stimmt allerdings längst nicht mehr. Im Gegenteil: Hirnwürste enthalten längst kein Ochsenhirn mehr, und selbst die Berner Zungenwurst sieht zum ersten Mal eine Zunge, wenn man in sie beisst.

Während das Wurstfleisch heute meist von ausgezeichneter Qualität ist und die Metzger überwiegend auf traditionelle Zutaten verzichten, haben sich früher oft verpönte, weil mit allerlei fleischfremden Ingredienzen «gestreckte» Würste in jüngster Zeit zu wahren Spezialitäten entwickelt. In der Schweiz sind es insbesondere Würste, die mit diversen Kohlsorten, Randen oder Kartoffeln veredelt werden, gelegentlich auch mit Brot oder Dörrfrüchten. Jüngeren Datums sind Würste, die Getreide oder gar Käse enthalten.

Zu den ältesten nach wie vor bekannten Würsten gehört die Vielzahl der Blut- und Leberwürste, die heute wie einst bei den Hofschlachtungen frisch hergestellt werden. Da bei diesen Schlachtungen früher oft die ganze Familie, Mägde, Knechte und Nachbarn dabei waren, reichten Blut und Leber allerdings meist nicht aus, um für alle Gäste genug Würste herzustellen. Also begann man, die Fleischmasse zu strecken. In Graubünden etwa mit der Kartoffel. «Pass nur auf, dass deine Würste nicht austreiben», frotzelten die Nachbarn, wenn der Metzger mehr Kartoffeln in die Masse gab als üblich.

Einst hatten sie in der Schweiz Tradition, dann verschwanden sie – und nun sind sie zurück: Die ersten der wiederangesiedelten Schwarzen Alpschweine werden 2021 geschlachtet, was insbesondere in der Wurstherstellung die Innovation ordentlich anschieben dürfte.

Das Strecken der Würste geschah aber selten aus reiner Not. Denn bis zum Ende des 19. Jahrhunderts war Schweinefleisch teurer als Rindfleisch. Würste galten als edle Speise, für die Kinder gab es davon allenfalls an Feiertagen einige Zipfel. Entsprechend wurden die Metzger und Hofschlachter immer kreativer, wenn es darum ging, erschwingliche Würste her- zustellen. Und da Getreide oder Gemüse weit günstiger waren als Fleisch, lag es auf der Hand, die Zutaten zu vermischen. Zu den bekanntesten Würsten dieser Art gehören sicher die Waadtländer Saucisse aux choux oder die Saaser Randenwurst, weniger bekannt sind zum Beispiel die Frâche aus dem Vallée de Joux mit einem stattlichen Anteil Kohlrübe, die Chantzet du Pays-d’Enhaut, eine traditionelle kalt geräucherte Blut-Kohl-Wurst, die aus den Waadtländer Alpen stammt, oder die Appenzeller Vorderländer Chruutworscht, die bis zu 30 Prozent gekochtes Weisskraut enthält. Und dann wäre da noch die Glarner Kalberwurst, ähnlich der St. Galler Bratwurst, doch mit einem Anteil an Weissbrot im Brät.

Wie die Zuger Chriesi- oder die Baselbieter Bottenwurst (mit Dörrzwetschgen) gibt es seit einiger Zeit auch Neukreationen, die mit grossem Erfolg lanciert wurden. Dörrfrüchte, Wildkräuter und neue oder wiederentdeckte Gewürze gehören zu den Zutaten, die innovative Metzger und Wurster heute verwenden, um sich vom Massenmarkt mit seinen industriell gefertigten Billigwürsten zu unterscheiden. Allen voran hat der Zürcher Räu- cher- und Wurstprofi Patrick Marxer in- zwischen schon Dutzende neue Würste kreiert, unter anderem solche mit Käse des Toggenburger Käsekünstlers Willi Schmid. Vor allem aber setzt er auch auf Fleisch von heimischen Tierrassen, etwa in seiner Bündner Grauviehwurst mit Baumnüssen oder seiner Evolèner Wurst mit Raclettekäse. Und dank der Wiederansiedlung der Schwarzen Alpschweine, von denen heuer die ersten Tiere geschlachtet werden, steht 2021 sicherlich ein weiterer Innovationsschub in der Kunst und der Vielfalt des Wurstens an.

Culinarium Alpinum: Kurs zum Thema
Unter dem Titel Die Würste des Alpenraums findet am Culinarium Alpinum in Stans am 23. März ein Kurs unter der Ägide von Patrick Marxer (Das Pure, Wetzikon) statt. Der Räucher- und Wurstprofi beleuchtet die Vielfalt der Wursttraditionen im Alpenraum, zu denen neben Brat- und Aufschnittwürsten auch viele der klassischen Streckwürste gehören. Die Technik des Streckens beherrscht auch Marxer, der die Anreicherung der Wurstmasse mit den verschiedensten Zutaten zu einer wahren und innovativen Wurstkunst entwickelt hat. Der Kurs dauert von neun bis 14 Uhr, die Kosten für die Teilnahme belaufen sich auf 240 Franken (inklusive Mittagessen und zwei Kilo Würste für zu Hause). Weitere Infos (auch zu Rabatten und zur Anmeldung) gibts online.
culinarium-alpinum.com



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