Brutal und radikal

In Berlin und im nahen Havelland loten Gastroprofis aus, wie Restaurants von morgen geführt werden könnten. Nachhaltigkeit wird auf die Spitze getrieben, Gäste müssen sich auf Regeln einstellen. Doch am Schluss scheinen alle zu profitieren.
Text: Wolfgang Fassbender – Fotos: z. V. g., Felix Thonke, Caroline Prange, Marko Seifert, Meike Peters
Veröffentlicht: 04.04.2023 | Aus: Salz & Pfeffer 2/2023

Was in Berlin ein Klacks sein mag, ist in Werder noch eine Herkulesaufgabe.

Die Gäste kommen unangemeldet. Vier Personen setzen sich am Samstagmittag in den kleinen Gastraum des Restaurants Fritz am Markt in Werder (Havel), studieren die Speisekarte und lauschen den fröhlichen Erläuterungen von Serviceleiter Marc Hedt. Klarstellungen sind auch nötig, denn was sich unter Speisen wie «Bauchfrei», «Ich sehe rot» und «Mach mich spitz» verbirgt, wissen nicht einmal die erfahrensten Foodies. Dass die Portionen kleiner sind als die üblichen Hauptgerichte, wird ebenfalls gesagt. Man empfiehlt zu teilen, zu zweit erst mal drei Gerichte zu bestellen und dann bei Bedarf nachzulegen. Darauf muss man sich einlassen. 

Wie das mit dem Einlassen funktioniert, hat während nun sieben Jahren auch der Sommelier und Gastronom Billy Wagner herausgearbeitet und -gefunden. Das Enfant terrible der deutschen Restaurantlandschaft, das mit Küchenchef Micha Schäfer 2015 in Berlin-Kreuzberg ein etwas anderes Lokal eröffnete, versteht sich aufs Provozieren. Mögen ihm manche allzu heftige Schaumschlägerei und einen Hang zur Selbstdarstellung vorwerfen, so hat er doch geschafft, was vielen von Michelin und Co. höher bewerteten Kollegen und Kolleginnen verwehrt blieb. Auf der Liste der 50 Best Restaurants rangiert sein Nobelhart & Schmutzig auf Position 17 und folglich unter den angesagtesten Lokalen der Welt. Manche Gäste, darunter viele von ausserhalb Deutschlands, kommen Jahr für Jahr aufs Neue. 

Klärungsbedarf gibt es trotzdem. Warum sie denn für acht zahlen müssten, wenn die Gruppe doch nur zu siebt gekommen sei, fragt gerade einer. Die Kellnerin fragt den Chef, der Chef macht klar. Reserviert ist reserviert. Und das heisst: Es wird gezahlt. Muss man sich trauen. Beim Thema der Handynutzung ist Wagner dagegen weniger streng als kolportiert. Wenn einer ein Foto macht, vom Essen, wird er deshalb nicht rausgeschmissen – auch wenn dem Chef lieber wäre, wenn sich die Gäste live mit dem Essen oder miteinander beschäftigten. Als einer der wenigen Wirte in Deutschland hat Wagner zudem die Preise nach Auslastung gestaffelt. Am Wochenende zahlt man mehr fürs Menü als sonst. Logisch eigentlich. Nachhaltigkeit bedeutet fürs Nobelhart & Schmutzig auch, dass man mit den Produzentinnen und Produzenten der Umgebung zusammenarbeitet. «Brutal lokal», nennt man das hier.

Was in Berlin ein Klacks sein mag, ist in Werder noch eine Herkulesaufgabe. Mit der S-Bahn braucht man eine gute halbe Stunde bis ins idyllische Brandenburger Städtchen. Christian Heymer, der in Thüringen aufgewachsene Küchenchef des Fritz am Markt, das auch über hübsche Zimmer verfügt, setzt um und ergänzt, was sich Gründer und Hotelier Friedrich W. Niemann am Anfang ausgedacht hat.

Das bedeutet, dass sich Heymer am Morgen erst mal auf die Socken macht und einkauft, was die Erzeuger und Erzeugerinnen im Umkreis von 15 Kilometern vorrätig haben. Brot von Müseler aus dem Nachbarort. Fisch von Kühn, einem der Havelfischer. Topinambur, Knollenziest und Walnüsse. Heymer kennt seine Quellen und sucht immer neue. Weil das Fritz nur ein paar Tische hat, kann er improvisieren, die Karte nach Lust und Laune gestalten, auch mit kleinen Mengen Grosses anfangen. Mal Aal, der rar geworden ist und den es deshalb nicht immer geben kann, mal Zander oder Hecht. Kein Steinbutt, ist ja klar. Und Fleisch eher als 

Anspielung namens Gulaschsaft denn als dickes Steak. Warum auch zu viel Tierisches, wenn man mit Sellerie arbeiten kann, mit geräucherten Haselnüssen, mit schwarzen Linsen oder, beim Dessert, mit Mais in Texturen, der durch schwarze Johannisbeeren kontrastiert wird. Brandenburger Tapas nennen Heymer und Niemann das, was am Schluss rauskommt. Den Hashtag #radikalregional fügen sie vorsichtshalber bei, damit alle wissen, woran sie sind. Nur bei den Getränken machen sie die eine oder andere Ausnahme. Wein aus Brandenburg – ja, den gibt es, dem Klimawandel sei Dank –, naturtrüben Apfelmost und Berliner Weisse, aber auch ein paar Weine aus anderen deutschen Anbaugebieten und sogar einen Champagner. Man will ja nicht dogmatisch werden.

Billy Wagner und Micha Schäfer, Nobelhart & Schmutzig, Berlin
Radikal lokal und provozierend puristisch: Lauch und Sauerampfer im Nobelhart & Schmutzig
Christian Heymer, Fritz am Markt, Werder (Havel)
Kürbis und andere Gemüse spielen im Fritz am Markt Hauptrollen.

Päpstlicher als der Papst ist auch Wagner nicht. Klar, das abgelaufene Bier, das er ausschenkt, weil es so gut zum ersten Dessert passt und ein bisschen Provokation zum Spiel gehört, stammt aus der Gegend. Dass Essen ein politischer Akt sei, steht auf der Website; Trinken ist stillschweigend mitgemeint. Aber die längst auf imposante Dicke angewachsene Weinkarte führt Natural Wines und andere Individualitäten, nicht nur aus Berlin und Brandenburg, sondern auch aus Frankreich oder Italien. Kein Gast wird daran gehindert, Geld für teure Flaschen auszugeben, denn das Projekt Nobelhart & Schmutzig soll sich rechnen. Selbst unter drastisch verschärften Bedingungen. 

Und wenn schon scharf, dann richtig schneidend. Wagner legt ein ganzes gedrucktes Kompendium zwecks Lektüre auf den Tresen. Nachhaltigkeit hört für ihn nicht bei der Zusammenarbeit mit Produzentinnen und Produzenten, beim Einmachen von Sommerfrüchten und dem Tierwohl auf. Nachhaltigkeit ist auch eine Frage des Miteinanders von Gästen, Servicekräften und Köchinnen. Wo sind die roten Linien, die niemand überschreiten sollte? Nein, nein, es werden keine Kundinnen oder Kunden des Lokals verwiesen, die nicht gendern; Spässe unter den Mitarbeitenden bleiben auch in der neuen Ära des Restaurants erlaubt. Und Gäste, die voller Freude reservieren, um Schäfers Spaghettikürbis-Eigelb-Gang oder das Dessert auf Basis von Safran und Urhonig zu geniessen, müssen keinen Verhaltenskodex unterschreiben. Doch jeder Mitarbeiter, jede Mitarbeiterin weiss nun, dass er oder sie sich weder den Klaps auf den Po noch sexistische Sprüche gefallen lassen muss. Bei übergriffigem Verhalten, das in verschiedenen Stufen beispielhaft aufgeführt wird, übernehmen Kollegen oder Kolleginnen die Betreuung essender Problemfälle. Im schlimmsten Fall ist aber auch klar, dass Gäste das Lokal verlassen müssen oder Vorgesetzte Konsequenzen erfahren. Und wenn es das nicht sein sollte, klar, sondern ein Grenzfall, steht eine spezialisierte Ansprechpartnerin für Gespräche zur Verfügung. 

Geklärt ist inzwischen auch die Frage der Arbeitszeiten. Es ist ein Thema, um das sich die Restaurants nicht nur in Deutschland und in der Schweiz immer noch herumdrücken. Gewiss, da und dort wurden die Servicezeiten reduziert, manchmal sind Mitarbeitende nur noch vier Tage im Betrieb, nicht fünf, wie ehedem. Doch das mit den 40 Wochenstunden hält ja kaum einer strikt ein, Überzeiten gehören, gerade im Fine Dining, zum Spiel. Im Nobelhart & Schmutzig war das auch lange so. Inzwischen aber werden die Stundenzeiten akribisch überprüft, die Menüpreise erhöht.

Letzte Bestellzeit: 21 Uhr. Die Angestellten müssen sich online einchecken und lernen gerade, dass sie das Auschecken nicht vergessen dürfen – und dass bisweilen auch Minuszeiten vorkommen. Dass der Chef da ist, bis der letzte Gast gegangen ist, wundert keinen – aber es müssen ja nicht alle vor Ort sein bis zum Morgengrauen. Was spricht dagegen, die Reinigung zu delegieren? 

In Werder indes ist das Team so klein, dass es keine gedruckten Verhaltenskodizes braucht. Und bei den Gästen trennt sich die Spreu eh schnell vom Weizen. Die vier vom Nebentisch haben sich alles angehört und die Karte rauf und runter studiert. Wirklich glücklich wirken sie nicht. Und irgendwann beschliesst erst der eine, dass er hier nicht bleiben wolle, dann stehen alle auf und gehen. Servicechef Hedt lässt sich nichts anmerken, verabschiedet freundlich, auch der Küchenchef bleibt professionell. So etwas komme bisweilen vor, ist zu hören, und eigentlich sind dann alle erleichtert. Denn wer sich nicht auf Neues einlassen will, bleibt lieber gleich beim Alten. 

Fritz am Markt 
Am Markt 7 / Baderstrasse 19 
14542 Werder (Havel) 
Deutschland 
+49 3327 731 76 70 
meinwerder-hotel.de

Nobelhart & Schmutzig 
Friedrichstrasse 218 
10969 Berlin-Kreuzberg 
Deutschland 
+49 30 2594061 0 
nobelhartundschmutzig.com



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