Reggae zum Pastis

Alexandre Mazzia gilt als neuer Superstar der französischen Küche. Um Konventionen kümmert sich der zunächst im Kongo aufgewachsene Koch keine Sekunde. Ausgebucht ist er trotzdem.
Text: Wolfgang Fassbender – Fotos: Matthieu Cellard, Wolfgang Fassbender
Veröffentlicht: 31.08.2021 | Aus: Salz & Pfeffer 4/2021

Mazzia bewältigt den Drahtseilakt bravourös.

Ausreizen, was man ausreizen kann. Soll man das als Fehler bezeichnen und kritisieren? Oder als cleveres Geschäftsmodell loben? Die Preise jedenfalls, die in diesem eigentlich mickrigen Bistro in Marseille aufgerufen werden, sind nach der Verleihung des dritten Sterns geklettert. So sehr, dass auch der Guide Michelin nicht mehr hinterherkommt. 265 Euro soll das allerteuerste Menü kosten, steht auf dessen Website im Moment unseres Besuchs, doch in Wirklichkeit muss, wer abends einkehrt im AM par Alexandre Mazzia und die ausführlichste aller angebotenen Speisenfolgen bestellt, 385 Euro berappen. Mittags kostet das grosse Menü immer noch 285. Pro Person und ohne einen Tropfen Wein. Damit schlägt der neue Drei-Sterne-Koch Frankreichs zumindest beim Preis so manches etablierte Pariser Toplokal.

Abschrecken tut das verlangte Geld indes nicht. Reservierungen waren Ende Juli erst wieder für Mitte September zu bekommen, und auch danach dürfte zusätzlich zu eingeplanten Gästen, Köchen und Kellnern keine Maus mehr ins Restaurant passen. Was durchaus wörtlich gemeint ist, denn das in einer ruhigen Strasse von Marseille gelegene neue Juwel der südfranzösischen Gastronomie verstört mit seinen Platzverhältnissen all jene, die an Klaustrophobie leiden. Einmal da, sollten sich Reisende nach dem Hinsetzen besser nicht mehr gross bewegen. Man sitzt eng, dank Glasscheiben freilich coronakonform, und fragt sich, wie die Mitarbeiter es hinbekommen, nicht ständig ineinander zu laufen. Da wurde sicher jahrelang geübt.

Bei einem Besuch der Toiletten im Untergeschoss muss man indes aufpassen. Nimmt der Sommelier gerade Nachschub aus dem Klimaschrank, ist der Ausgang versperrt. Und weiss der Himmel, wo man jene Zigarren rauchen soll, die in dem kleinen Humidor daneben lagern: vielleicht auf der Strasse. Kein Zweifel: Unter den Drei-Sterne-Restaurants Frankreichs ragt das AM schon optisch heraus.

Für Alexandre Mazzia gilt das im wahrsten Sinne. Der Mann ist ein Riese, spielte lang erfolgreich Basketball und beherrscht schon optisch das Geschehen in der verblüffend kleinen offenen Küche. Hier ein Lammkarree zu grillieren oder eine Dorade aus der Salzkruste zu holen, dürfte kaum möglich sein. Aber es gibt eh keine grossen Fische an diesem Mittag. Auch weder Geflügel noch anderes Fleisch – sofern man die durchaus vorhandenen Jus, Fonds, Aromatisierungshäppchen nicht als solche definiert. Schnell macht der Service klar, dass ein einziges Menü in variierender Länge zur Verfügung stehe und viel Pflanzliches und Fisch enthalten sei.

Ein bisschen von Letzterem kommt gleich zu Beginn. Zwei hauchdünne Scheiben von der Zahnbrasse als Teil des Amuse-Bouche oder des ersten Gangs – so genau lässt sich das nicht auseinanderhalten. Dazu kristallisierter Kohl mit Safran, süss-saure Zucchini, Rotbarbe mit einer Vinaigrette, die aus den Köpfen von Fischen hergestellt wurde. Weil der Jahrgangspastis – wir nehmen den ältesten, einen 2017er – eher ein Erlebnis für sich ist, als dass er wirklich zum Essen passt, schwenken wir auf Champagner um. Der dürfte nicht zufällig die Weinkarte dominieren, harmoniert er doch am besten mit den intensiven, zwischen asiatischen Aromen, mediterranen Zutaten und Verrücktheiten pendelnden Speisen. Algen, Süsskartoffel und Lakritz: verblüffend komplex. Wildlachs mit Sake: wunderbar abgestimmt. Räucheraal mit Schokolade in Form kleiner, nach Patisserie aussehender Happen: ein Wagnis der höchsten Kategorie, in diesem Fall aber gelungen. Mazzia bewältigt den Drahtseilakt bravourös.

Merkt man im Essen jene Kindheit, die Mazzia im Kongo verbrachte, fragen die Journalisten an dieser Stelle gern. Als Sohn eines Holzhändlers kam der Chef in Pointe-Noire zur Welt. Ihn selbst zu fragen, ist schwierig, denn er hat alle Hände voll zu tun. Bedingt, wäre deshalb unsere Antwort. Die Kaffirlimette, welche die Butter zum erst jetzt servierten luftigen Brot aromatisiert, ist kaum als unverwechselbar afrikanisch einzuordnen, das Maniokgelee zu einem Gericht mit Kaisergranat schon. Deutlicher scheint jene Zeit durchzuschimmern, die Mazzia bei Martín Berasategui in Spanien verbrachte. Und denkt man bei seiner gekonnten Verarbeitung von Gemüse nicht unwillkürlich an den Pariser Alain Passard, bei dem er ebenfalls eine Weile studierte?

Gemüse spielt in Alexandre Mazzias Küche die Hauptrolle.
Soufflierter Reis und fermentierte Banane: erstaunlich komplex

Vom Tonband hört der Gast jedenfalls Reggae, und das Essen kommt Schlag auf Schlag. Immer viele Teller und Schüsseln (also Gänge) aufs Mal. Man solle da beginnen und auf eine bestimmte Weise fortfahren, rät der Service. Verführe man anders, wäre das aber nicht tragisch. Fast alle Speisen sind nämlich eigenständig. Wie der weltbeste Couscous mit Orangenblüten und einem Hauch von Meerrettich. Wie der ausgelöste Taschenkrebs mit Zahnbrasse, Sake und Garum. Vor Schärfe scheut Mazzia nicht zurück, aber stets ist sie ins Gesamtpaket eingebunden.

Wo andere Restaurants im Laufe des Essens nachlassen, steigert sich Mazzia, je weiter der Mittag fortschreitet. Der zweite Brotgang – eine mit Piment d’Espelette gewürzte Focaccia – ist noch besser als der erste. Und der Kaisergranat mit Algen-Popcorn, der nach Anraten der für unseren Tisch zuständigen Kellnerin mit den Fingern gegessen werden sollte, ist von der denkbar besten Art. Fleisch ist im letzten Gänge-Konglomerat des Menüs in allerlei Andeutungen vorhanden: im Jus zu den Reisnudeln mit Spinat, als Pancetta zu den grünen Bohnen, als Geflügelconsommé zu den Jakobsmuscheln. Hat man sowas schon mal gegessen, in einem anderen Restaurant Frankreichs? Kaum.

Eigenständiger als Mazzia kocht niemand im Lande. Man merkt es auch an den Desserts, die zwar durchdacht wirken, aber kein bisschen anstrengend. Das Eis von Milchkonfitüre mit Matcha, der Pudding mit Fleischsaft (!), Tomatillos und säuerlich-floralen Tamarinden-Hibiskus-Akzenten. Oder die fermentierte Banane mit souffliertem Reis und Kumquats. Drei-Sterne-Küche! Wenn selbige doch nur, da und dort, mit etwas mehr Musse zelebriert würde. Hin und wieder haben wir das Gefühl, als sollte zwischen Mittagessen und Abendservice noch ein weiterer Essensdurchgang eingeschoben werden. Wo die Kunden in anderen Drei-Sterne-Restaurants schon mal vier oder fünf Stunden verweilen, sind sie im AM locker um 15 Uhr durch. Man könnte den Kauprozess ins Extreme strecken, so wie die Gäste neben uns, um Zeit zu schinden, oder man schickt sich ins Unausweichliche und plant einen zusätzlichen Spaziergang um Marseilles alten Hafen ein.

Als wir gehen, ist Mazzia gerade nicht da. Vielleicht auf der Toilette oder in der überschaubar grossen Vorbereitungsküche unten – mehr Möglichkeiten, sich zu verstecken, gibt es schliesslich nicht in seinem Luxusbistro. Kunden zu verabschieden, fällt offenbar nur fakultativ in den Aufgabenbereich des Chefs. Immerhin: Sein Autogramm und einige unleserliche Dankesworte finden sich auf dem mit der Rechnung überreichten gedruckten Menü. Das muss reichen. Und ehrlich gesagt: Das tut es auch.

AM par Alexandre Mazzia
9, rue François Rocca
13008 Marseille, Frankreich
+33 491248363
alexandre-mazzia.com

Zentrum der modernen Küche
Marseille sowie der Rest der Provence / Côte d’Azur haben sich, ohne dass dies ausserhalb Frankreichs durchgreifend bemerkt worden wäre, zu einem Zentrum der modernen, zwischen Regionalität und Neugier pendelnden Esskultur entwickelt. Von wegen Fischsuppen und gefüllte Tomaten! Drei Sterne gab es schon vor einer Weile fürs schicke Le Petit Nice (ebenfalls Marseille), drei fürs Mirazur in Menton. Und auf der Ebene darunter ist ebenfalls einiges zu entdecken. Was der namensstiftende Küchenchef im La Table de Xavier Mathieu in Joucas leistet, ist dem Guide Michelin zwar nur einen Stern wert, mir aber zwei (sein Pistou hat gar drei Sterne verdient). Und die Qualität der Carabineros, die Jérémy Scalia im winzigen Hotel de Tourrel (ein Michelin-Stern) in Saint-Rémy verarbeitet, ist in der Schweiz unmöglich zu bekommen. Nichts wie hin in den Süden!



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